Staatsverfassung für den Eidgenössischen Stand Solothurn

vom 31. Dezember 1850

aufgehoben durch
Verfassung vom 1. Juli 1856

 

Erster Titel.
Allgemeine Bestimmungen.

§ 1. Der Kanton Solothurn ist ein Freistaat mit Repräsentativ-Verfassung, und ein Bundesglied der schweizerischen Eidgenossenschaft.

§ 2. Die höchste Gewalt beruht in der Gesammtheit des Volkes; es übt dieselbe aus gemäß den Bestimmungen der Bundes- und Kantonalverfassung.

Die Kantonal-Verfassung bleibt der Bundesverfassung untergeordnet.

§ 3. Die Ausübung der christlichen Religion nach dem römisch-katholischen und evangelisch-reformirten Glaubensbekenntnisse steht unter dem besondern Schutze des Staates.

Die freie Ausübung des Gottesdienstes ist den übrigen anerkannten christlichen Confessionen gewährleistet.

§ 4. Die Freiheit der Presse und Meinungsäußerung ist gewährleistet. Das Gesetz bestimmt die Bestrafung des Mißbrauchs.

§ 5. Der freie Gewerb und Handelsverkehr ist anerkannt. Allfällige Polizeiverordnungen sollen nur von dem Grundsatze der Gewerbsfreiheit ausgehen und sind von dem Kantonsrathe zu erlassen. Der Gesetzgebung bleibt vorbehalten, gegen diejenigen Staaten, in welchen solothurnische Kantonsbürger nicht mit den Angehörigen dieser Staaten gleiche Rechte genießen, Beschränkungen eintreten zu lassen.

§ 6. Das Petitionsrecht ist gewährleistet. Dasselbe kann von Behörden, Korporationen und Privaten einzeln und vereint ausgeübt werden.

§ 7. Das durch die bisherige Gesetzgebung als Stammvermögen erklärte Staatsgut ist so weit unantastbar, daß darüber nur in Kriegszeiten und für Kriegsbedürfnisse vom Kantonsrathe mit drei Viertel Stimmen der Gesammtheit desselben verfügt werden kann.

In der gleichen Versammlung, in welcher der Kantonsrath eine solche Verfügung trifft, muß er auch die Art und Weise bestimmen, wie die Summe, über welche verfügt worden ist, wieder ersetzt werden soll.

§ 8. Zehnten und ähnliche dingliche Lasten, die gesetzlich abgeschafft sind, dürfen nicht wieder eingeführt werden.

§ 9. Die Errichtung geistlicher Korporationen ist untersagt.

§ 10. Die Beamten haften für den Schaden, den sie in amtlichen Verrichtungen durch ihr Verschulden Jemanden zufügen. In so weit sie oder ihre allfälligen Amtsbürgen den Schaden nicht ersetzen können, hat der Staat dafür zu haften.

Die Mitglieder des Kantonsrathes können für ihre Stimmgebung in der Behörde nicht verantwortlich gemacht werden.

§ 11. Es dürfen von den Oberamtmännern, Gerichtspräsidenten, Gerichtsschreibern, Amtsschreibern und Kanzleien keine Sporteln bezogen werden, außer zu Handen der Staatskasse.

Ein Gesetz wird die nähern Anordnungen treffen.

§ 12. Die richterliche Gewalt ist von der vollziehenden getrennt.

§ 13. Die bestehenden Gesetze und Verordnungen bleiben in Kraft, bis sie von der zuständigen Behörde abgeändert werden.

§ 14. Bei allen durch die Verfassung ausdrücklich vorgesehenen Wahlen entscheidet das geheime absolute Stimmenmehr.

§ 15. Die Sitzungen des Kantonsrathes und die Verhandlungen vor den Gerichten sind in der Regel öffentlich; ebenso die Berathungen und Abstimmungen der Gerichte in Civilsachen.

§ 16. Der Kanton Solothurn wird in fünf Oberämter eingetheilt. Dieselben sind:
1) Solothurn und Läbern.
2) Bucheggberg und Kriegstetten.
3) Balsthal.
4) Olten und Gösgen.
5) Dorneck und Thierstein.

Zweiter Titel.
Öffentliche Gewalten.

A. Gesetzgebende Gewalt.

§ 17. Die Stellvertreter des Volkes bilden die höchste Staatsbehörde, die sich "Kantonsrath von Solothurn" nennt.

§ 18. Zum Behuf der Wahlen in den Kantonsrath versammeln sich die stimmberechtigten Bewohner des Kantons in folgenden zehn Kreisen: Solothurn, Lebern, Bucheggber, Kriegstetten, Balsthal-Thal, Balsthal-Gäu, Olten, Gösgen, Dorneck, Thierstein.

§ 19. Die Kreise wählen auf je 650 Einwohner nach der letzten amtlichen Zählung ein Mitglied in den Kantonsrath. Eine Bruchzahl von 350 Einwohnern berechtigt ebenfalls zur Wahl eines Mitgliedes.

Bei einer Gesammterneuerung des Kantonsrathes werden die Kreisversammlungen auf den gleichen Tag zusammen berufen.

Jeder Stimmberechtigte ist auch wählbar.

§ 20. .Bei Doppelwahlen entscheidet das Loos, für welchen Kreis die Wahl gelten soll.

§ 21. Alle im Kanton wohnenden Schweizerbürger weltlichen Standes, die nicht von der Stimmberechtigung durch § 22 ausgeschlossen sind, üben ihr Stimmrecht in ihrem Wohnkreise aus.

Schweizer, die nicht Kantonsbürger sind, werden stimmberechtigt, sobald sie ihren Wohnsitz im Kanton nehmen und eine Niederlassungsbewilligung erhalten. Haben sie aber keine Niederlassungsbewilligung, so erhalten sie die Stimmberechtigung erst nach einem einjährigen Aufenthalt im Kanton.

§ 22. Von der Stimmberechtigung sind ausgeschlossen:
a. die nicht eigenen Rechtes sind;
b. die im öffentlichen Almosen stehen oder darin gestanden oder für das erhaltene noch nicht Ersatz geleistet haben, worunter jedoch diejenigen, welche für sich oder ihre Kinder Unterstützung zum Besuche von Schulen oder zur Erlernung oder Ausübung einer Kunst oder eines Handwerkes erhalten haben, nicht mitbegriffen sind;
c. die mit einer entehrenden Strafe Belegten, so lange sie nicht wieder in ihre staatsbürgerlichen Rechte eingesetzt sind.

§ 23. Alle fünf Jahre findet im Monat Mai eine Gesammterneuerung des Kantonsrathes statt. Seine Amtsdauer beginnt, mit Vorbehalt der Bestimmung von § 40,  mit der jeweilen im Laufe des Monats Mai vorzunehmenden Constituirung und endet auf benannten Zeitpunkt des fünften Jahres.

Das Gesetz bestimmt die Fälle, in welchen überdieß die Stelle eines Mitgliedes des Kantonsrathes erledigt zu erklären ist.

§ 24. Wenn in der Zwischenzeit von einer Gesammterneuerung zur andern die Stelle eines Mitgliedes des Kantonsraths erledigt wird, so soll sie inner sechs Monaten wieder besetzt werden.

Die neuerwählten Mitglieder des Kantonsrathes treten sogleich ein, auch bevor das Wahlverbale genehmigt worden.

§ 25. Der Kantonsrath erwählt seinen Präsidenten und Vicepräsidenten je für eine Amtsdauer vom 1. Januar bis 31. Dezember; der Erstere ist nach Ablauf seiner Amtsdauer ein Jahr lang nicht wieder wählbar, außer wenn er in der Zwischenzeit einer Amtsdauer gewählt worden ist.

§ 26. Der Kantonsrath versammelt sich ordentlicherweise zweimal des Jahres, außerordentlicher Weise in folgenden Fällen:
a. wenn fünfunddreißig Mitglieder des Kantonsrathes es verlangen, innerhalb 10 Tagen, vom Tage an gerechnet, an welchem jenes Begehren eingereicht worden ist;
b. wenn es der Regierungsrath verlangt in der von diesem begehrten Frist;
c. wenn es der Präsident des Kantonsrathes von sich aus für nothwendig findet.

Er wird durch seinen Präsidenten zusammenberufen.

§ 27. Der Kantonsrath hat das ausschließliche Recht der Gesetzgebung; seine Obliegenheiten und Befugnisse sind insbesondere:
1. Er berathet über die ihm von dem Regierungsrathe eingereichten Gesetzesvorschläge, die er mit oder ohne Abänderung annehmen, verwerfen oder zurückweisen kann. Er kann auch den Regierungsrath zur Einreichung eines Vorschlags zu einem Gesetze oder Beschlusse in einer bestimmten Zeit auffordern, und wenn inner derselben keiner erfolgt, durch eine aus seiner Mitte zu ernennenden Kommission sich einen solchen einreichen lassen.
2. Er erläßt das Reglement des Regierungsrathes und der Wahlbehörde.
3. Er beschließt über allgemeine Steuern, Abgaben und Sporteln, - über die Veräußerung von Staatsgütern, so wie über den Ankauf von Liegenschaften, deren Preis 10000 Fr. neue Währung übersteigt.
4. Er bestimmt jährlich den Voranschlag der Einnahmen und Ausgaben, prüft und genehmiget die jährlichen Rechnungen und Rechenschaftsberichte, welche beide ganz oder auszugsweise zu veröffentlichen sind.
5. Er entscheidet über die Frage einer außerordentlichen Zusammenberufung der Bundesversammlung.
6. Er schließt Verträge mit andern Staaten; jedoch kann er hiefür auch dem Regierungsrathe Vollmacht ertheilen.
7. Er entscheidet über Ertheilung des Kantonsbürgerrechts.
8. Er übt das Begnadigungsrecht aus, so weit es nicht durch das Gesetz dem Regierungsrathe übertragen wird.
9. Er ernennet:
    a) die Mitglieder des Regierungsrathes, des Obergerichts, den Staatsschreiber, die Oberamtmänner, die Amtsgerichtspräsidenten, Amtsrichter, Amtsschreiber für die gleiche in § 23 bestimmte Amtsdauer, welche, vorbehältlich der Ausnahme in § 42, je den 1. Juni beginnt;
    b) den Landammann, Obergerichtspräsidenten und die Mitglieder der Wahlbehörde für die in § 25 bestimmte Amtsdauer;
    c) die Mitglieder des schweizerischen Ständerathes für die gesetzlich bestimmte Amtsdauer.

§ 28. Bei der Abstimmung über Genehmigung oder Verwerfung des Rechenschaftsberichtes haben diejenigen Kantonsräthe, welche zugleich Mitglieder des Regierungsrathes sind, abzutreten; ebenso jene Kantonsräthe, welche eine Oberrichterstelle oder andere Beamtung bekleiden, bei der Abstimmung über ihre Geschäftsführung.

Das Gesetz bestimmt die fernern Fälle von Abtretung.

B. Vollziehende Gewalt.

§ 29. Die oberste Vollziehungsbehörde nennt sich "Regierungsrath des Kantons Solothurn"; sie besteht mit Einfluß des Landammanns und Staatsschreibers aus sieben Mitgliedern; der Landammann führt den Vorsitz.

§ 30. Die Wiederbesetzung einer erledigten Stelle im Regierungsrathe geschieht in der ersten Versammlung des Kantonsrathes.

Beim Austritt des Landammanns als Mitglied des Regierungsrathes ist die Landammannsstelle erledigt, und es wird zuerst zur Ergänzung der Regierungsrathsstelle und erst dann zur Wahl des Landammanns geschritten.

In Betreff der Nichtwiederwählbarkeit des Landammanns gilt die Vorschrift des § 25.

§ 31. Weder im Regierungsrathe noch in der Wahlbehörde dürfen sich zu gleicher Zeit nicht befinden: Vater und Sohn, Großvater und Enkel, Brüder, Oheim und Neffe, Großoheim und Kleinneffe, Geschwisterkinder, wirklicher Schwiegervater und Tochtermann, wirkliche Schwäger.

§ 32. Der Regierungsrath hat insbesondere folgende Obliegenheiten und Befugnisse:
1. Er reicht dem Kantonsrathe Vorschläge zu Gesetzen und Beschlüssen ein, und sorgt für die Vollziehung.
2. Er hat jährlich über Einnahmen und Ausgaben einen Voranschlag zu entwerfen, und über die Vermögensverwaltung Rechnung und über seine Verrichtungen Rechenschaft abzulegen.
3. Er kann Liegenschaften ankaufen, wenn der Preis 10000 Fr. neue Währung nicht übersteigt; jedoch darf er in dringenden Fällen und mit Zustimmung von 5 Mitgliedern jene Summe überschreiten..
4. Er sorgt für Handhabung der äußern Sicherheit und innern Ruhe und verfügt zu diesem Behufe über die Truppen.
5. Er ernennt alle Beamten, deren Wahl nicht dem Kantonsrathe oder der Wahlbehörde vorbehalten oder sonst übertragen ist.

§ 33. Ein Regierungsrath, der nicht Mitglied des Kantonsrathes ist, hat in den Sitzungen des letztern berathende Stimme und kann Anträge stellen.

§ 34. Die Wahlbehörde besteht aus dem Regierungsrathe und 10 Zuzüglern aus der Zahl der Kantonsräthe, von denen aus jedem Kreise einer zu wählen ist. Ein von der Wahlbehörde gewählter Beamter kann nicht Mitglied derselben sein.

Zur Vornahme einer gültigen Verhandlung müssen wenigstens 14 Mitglieder anwesend sein.

§ 35. Für jedes Oberamt besteht ein Oberamtmann, der dem Regierungsrathe untergeordnet ist.

C. Richterliche Gewalt.

§ 36. Ein Obergericht von 7 Mitgliedern, mit Einschluß des Präsidenten spricht in letzter Instanz über alle dahin gezogenen rekursfähigen Sprüche und Civilsachen.

Das Obergericht muß zur Fällung eines gültigen Urtheils in der Regel vollzählig sein.

Das Gesetz wird die Ausnahmsfälle, so wie die fernern Obliegenheiten des Gerichtes oder einzelner Mitglieder desselben bestimmen.

§ 37. Für jedes Oberamt wird als erstinanzliche Gerichtsbehörde ein Amtsgericht aufgestellt, bestehend aus dem Amtsgerichtspräsidenten und 4 Amtsrichtern.

§ 38. Die Strafrechtspflege und die Militärgerichtsbarkeit werden durch das Gesetz geordnet.

In Kriminalsachen findet Anklage und Vertheidigung statt.

§ 39. Die bezüglich auf Verwandtschaftsverhältnisse in § 31 für den Regierungsrath ertheilten Vorschriften, gelten auch für das Obergericht, die Amtsgerichte.

Dritter Titel.
Einführung und Revision der Staatsverfassung.

§ 40. Die Verfassung wird den nach § 21 stimmberechtigten Schweizerbürgern zur Annahme oder Verwerfung vorgelegt.

Erfolgt die Annahme durch die Mehrheit der Stimmenden, so wird der Regierungsrath sogleich die Wahlen der Mitglieder des Kantonsrathes anordnen und diese einberufen.

§ 41. In der ersten Versammlung nimmt der Kantonsrath unter Vorsitz des ältesten anwesenden Mitgliedes die Untersuchung der Wahlverhandlungen vor, wählt sodann seinen Präsidenten und Vicepräsidenten und erklärt seine Konstituirung

§ 42. Der jetzige Regierungsrath bleibt in seinen Verrichtungen, bis der neue sich konstituirt hat.

Der Regierungsrath und das Obergericht treten ihre Verrichtungen sogleich nach der Wahl an; die übrigen Behörden und Beamten aber, deren Amtsdauer durch die Verfassung auf 5 Jahre bestimmt ist, am 1. April und bleiben im Amte bis 1. Juni 1856. Die Angestellten, deren die Verfassung nicht erwähnt, bleiben im Amte, bis sie abgerufen werden.

§ 43. Die Amtsdauer des neugewählten Präsidenten und Vicepräsidenten des Kantonsrathes, des Landammanns und des Obergerichtspräsidenten endet mit dem 31. Dezember 1851.

§ 44. Das Gesetz wird verfügen, welche von den Streitigkeiten, die nach bisherigen Bestimmungen der Entscheidung der Verwaltungsgerichte anheimfallen, in Zukunft von den Civilgerichten beurtheilt, und welche dagegen vom Regierungsrathe ohne Anwendung der richterlichen Formen behandelt werden sollen.

§ 45. Eine theilweise oder vollständige Revision der Verfassung findet statt, wenn es von 4000 Stimmberechtigten verlangt oder von dem Kantonsrath beschlossen wird, und wenn im einen oder andern Falle die Mehrheit der nach § 21 stimmenden Schweizerbürger die Genehmigung ertheilt.

Bei der erwähnten Abstimmung hat das Volk auch darüber zu entscheiden, ob die Revision durch den Kantonsrath oder durch einen Verfassungsrath vorzunehmen sei. Im letztern Falle wird ein solcher nach den Vorschriften der §§ 18 und 19 gewählt.

    Beschlossen vom Kantonsrath am 31. Dezember 1850

Der Präsident:
Burki.

Der Staatsschreiber
Reinert.

 

Wir Landammann und Regierungsrath
des Kantons Solothurn,

nach Einsicht der in Folge Gesetzes vom 31. vorigen Monats von sämmtlichen Gemeinden eingegangenen Verbalprozesse über die am 19. d. stattgefundene Abstimmung bezüglich der Annahme oder Verwerfung der neuen Verfassung

beurkunden,

daß die vom Kantonsrath am 31. Christmoant 1850 angenommene Verfassung vom Volk mit einer Mehrheit von 1789 Stimmen angenommen worden ist, indem von 10619 Stimmenden 6204 Stimmen sich für die Annahme und 4415 Stimmen für Verwerfung erklärten.

    Solothurn, den 21. Jänner 1851.

Der Landammann:
A. J. Kaiser.

Der Staatsschreiber:
Reinert.

 

Die Verfassung wurde am 21. Januar 1851 vom Volk angenommen; deshalb trägt die Verfassung oftmals auch dieses Datum.


Quellen: Marchand, Bundesverfassung nebst in Kraft stehender Kantonsverfassungen, Freiburg 1856
© 30. September  2005 - 1. Oktober 2005


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