Staatsverfassung des Cantons Appenzell der äußern Rhoden

vom 28. Juni 1814

revidiert durch
Gesetz vom 26. April 1829

aufgehoben durch
Verfassung vom 31. August 1834

 

Allgemeine Bestimmungen.

Die äußern Rhoden des Cantons Appenzell bekennen sich sämmtlich zur evangelisch-reformirten Religion. Ihre politische Verfassung ist rein demokratisch, und die höchste Gewalt beruht auf der Gesammtheit des Volks. Jeder Eingeborne ist Soldat und zum Militairdienste verpflichtet, sobald er das sechszehnte Jahr erreicht hat und den Beitritt zum heil. Abendmahl erhalten hat.

Eintheilung.

Der Canton ist in die Gemeinden von vor der Sitter und hinter der Sitter eingetheilt. Jede dieser Landesseiten stellt fünf hohe Beamte, nämlich den Landamman, Landsstatthalter, Landsseckelmeister, Landshautpmann und Landsfähndrich, in die Landesregierung, welche alle zwei Jahre im Rang abwechseln und gegenseitig in den gleichen Rechten und Pflichten stehen. Trogen und Herisau sind die Hauptorte des Cantons; jedoch wird am ersten Orte die hohe Justiz ausschließlich verwaltet. Auf beiden Plätzen befinden sich die Landescanzleien und Archive vertheilt.

Öffentliche Gewalten.

Die gesetzgebenden und vollziehenden Behörden dieses Cantons sind die Landsgemeinde, die Neu- und Alt-Räthenversammlung, der große Rath und die kleinen Räthe.

1. Die Landsgemeinde oder die allgemeine Versammlung des Volks ist die höchste Landesbehörde. Sie besteht aus allen Angehörigen des Cantons im Alter von sechszehn Jahren und darüber, wird alle Jahre am letzten Sonntage des Aprilmonats abwechselnd zu Hundwyl und Trogen gehalten, und erwählt durch freie Hand und Stimme die vier Standeshäupter, die sechs übrigen Beamten, den Landwaibel und Landschreiber, dorch stets nur für ein Jahr, nach dessen Verflusse alle wieder wählbar sind. Der Landsgemeinde müssen alle Bündnisse und Verträge, Kriegs- und Friedensschlüsse, alle Vorschläge zu neuen Landesgesetzen oder zu Abänderung der alten zur Entscheidung vorgelegt werden, nachdem sie vom großen Rathe geprüft worden sind. Sie allein ist befugt, den Fremden das Landrecht zu ertheilen oder sie abzuweisen. Außerordentliche Landsgemeinden können einzig von dem großen Rathe erkennt und angeordnet werden.

2. Die Neu- und Alt-Räthenversammlung ist die zweite Behörde des Cantons, und ist aus den sämmtlichen Landesbeamten, den Hauptleuten und einer für jede Gemeinde festgesetzten Anzahl Rathsgliedern zusammengesetzt. Ihr Zusammentritt geschieht alle Jahre am zweiten Montag an der Landsgemeinde abwechselnd zu Herisau und Trogen, an welchem die in den Kirchhören neu erwählten Gemeindsvorsteher den Regimentseid schwören und dann Sitz und Stimme haben.

Die Neu- und Alträthe erwählen oder bestätigen den Rathsschreiber, die beiden Landesbauherren, die Examinatoren, alle höhere Militairstellen, den Landläufer, die Wegmeister und andere Bedienungen. Das allgemeinen Sitten- und Polizeimandat, das Militairreglement und andere Landesverordnungen werden ihrer Prüfung, Bestätigung oder Abänderung unterworfen. Sie verfügen über die Aufhebung oder den Fortbestand der verschiedenen Commissionen für die innere Staatsverwaltung und das Kirchen- und Schul-, das Militair- und Polizeiwesen. Sie verordnen die Erhebung temporärer Steuern entweder selbst, oder übertragen die Vollmacht hierzu dem großen Rathe, und treffen alle die höhern Verfügungen, welche nicht in die positive Gesetzgebung und ausschließlichen Vorrechte der Landsgemeinde eingreifen.

3. Der große Rath besteht aus den zehn Landesbeamten und den sämmtlichen regierenden Hauptleuten der Gemeinden. Er versammelt sich alle Jahre ordentlich im Frühling und Herbst zu Untersuchung der Landesrechnungen, und übrigens unbestimmt, nach Erforderniß der Geschäfte, zu Trogen und Herisau. Er übt die höchste richterliche und vollziehende Gewalt aus, und ist die letzte Instanz in Civil-, Justiz-, Polizei- und Cirminalsachen. Der große Rath wacht über die Handhab der Gesetze und die Vollziehung der Beschlüsse und Verordnungen höherer Behörden. Als Stellvertreter des Volkes bersorgt er alle seine allgemeinen und besondern Interessen und Angelegenheiten. Von ihm werden die Gesandtschaften auf die Tagsatzungen und Conferenzen ernannt und mit Instructionen versehen, und ihm die Berichterstattungen ablegt. Alle vor die höchsten Behörden gelangenden Anträge sind seiner Berathung unterworfen.

4. Die kleinen Räthe versammeln sich vor der Sitter aller ersten Dienstage des Monats zu Trogen, und hinter der Sitter des Jahres dreimal zu Herisau, Urnäsch und Jundwyl, denen einzelne Beamte und die altherkommliche Anzahl von Hauptleuten oder Rathsgliedern aus den betreffenden Gemeinden beiwohnen. Sie beurtheilen in zweiter Instanz alle Streitigkeiten und Proceßsachen; bestrafen diejenigen Vergehungen, welche die Buße von zehn Gulden nicht übersteigen; erkennen die Gant- und  Rechtstage, und sind Aufseher über alle Zweie der niedern Polizeipflege.

Der regierende Landamman ist Präsident aller oben angezeigten hohen Staatsbehörden, und er verwahrt das große Secret-Insiegel des Cantons. Alle amtliche Ausfertigungen, die Führung der Protocolle, die Registratur und Briefwechsel u. s. w. werden von dem Rathsschreiber und Landschreiber zu Herisau und Trogen besorgt.

Die Gemeindebehörden.

Alle Gemeinden der äußern Rhoden dieses Cantons sind in demjenigen, was die Verwaltung ihrer Kirchen- und Gemeindsgüter, ihres Armenwesens und innern Anstalten betrifft, von einander unabhängig, und haben ihre eigenen Behörden, die man Kirchhören und Gemeinderath, oder Hauptleute und Räthe nennt.

1. Die Kirchhören oder die Gesammtheit aller Ortsbürger versammeln sich des Jahrs zwei Mal, nämlich:
a) am Sonntage nach der gewohnten Landsgemeinde, zu Erwählung und Bestätigung der Hauptleute und Räthe; und
b) zu Martini (=11.11.) wegen Besetzung der verschiedenen Ämter und Bedienungen in der Gemeinde.

Die Kirchhören verfügen außerdem über die öffentlichen Anstalten und Besitzungen, bestimmen die Steuern zur Abhülfe der eigenen Bedürfnisse, üben das Collaturrecht aus, und entscheiden über alle innere Angelegenheiten der Gemeinden in Sachen von Wichtigkeit. Außerordentliche Kirchhören dürfen nur mit Vorwissen und Bewilligung eines der vier Standeshäupter versammelt werden.

2. Der Gemeinderath besteht aus zwei Hauptleuten und fünf bis zwei und zwanzig Mitgliedern, welche von der Kirchhöre unmittelbar erwählt werden. Ihm obliegt die Leitung aller Geschäfte und Interessen der Gemeinde, die specielle Aufsicht über die innern Anstalten und Stiftungen, die Verwaltung des Voigtei-, Armen- und Schulwesens, die Vollziehung der hoheitlichen Gesetze und Verordnungen und die Wachsamkeit über Sittlichkeit, Ruhe und Ordnung. Er bewilligt oder verwehrt die Niederlassung der Fremden, verfügt über die Aufrichtung der Schuldbriefe, und ist die ersten Instanz in Prozeßsachen und Streitigkeiten. Die zwei Hauptleute wechseln alle Jahre im Präsidium der Kirchhören und des Gemeinderaths ab, verwalten den Rechtstrieb und vollziehen alle Aufträge der Landes- und Gemeindsbehörden. Ein Gemeindschreiber führt das Protocoll und besorgt die amtlichen Ausfertigungen.

Ehesachen werden in erster Instanz vom Pfarrer und den Hauptleuten der Gemeinden und in zweiter und letzter Instanz von einem aus weltlichen und geistlichen Personen bestehenden Ehegericht, welches sich alle Jahre am Mittwoch nach der Landsgemeinde abwechselnd zu Herisau und Trogen versammelt, beurtheilt.

    Die gegenwärtige Verfassungsurkunde der äußern Rhoden des Cantons Appenzell ist zu Handen der hohen eidgenössischen Tagsatzung ausgefertigt, mit den gewohnten Unterschriften versehen und mit dem großen Secret-Insiegel verwahrt worden zu Trogen am 28sten Tag des Brachmonats im Jahr 1814.

Der regierende Landamman,
Zellweger.

Namens des Rahts:
Der Rathschreiber,
Schäfer.

Wie die Urkantone auch, hatte Appenzell eine direktdemokratische Verfassung wie vor 1798.
 


Quellen: K.H.L. Pölitz, Die europäischen Verfassungen seit dem Jahre 1789, Brockhaus Leipzig 1833
© 21. Mai 2005 - 29. Oktober 2005
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