Staatsverfassung der helvetischen Republik

vom 27. Februar 1802

 

Erster Abschnitt
Gebietseintheilung.

Art. 1. Die helvetische Republik bildet nur Einen Staat. Jeder helvetische Bürger ist befugt, sich überall in der Republik niederzulassen, und an seinem Wohnorte alle bürgerliche und politische Rechte auszuüben, ohne andere Einschränkungen, als welchen die Bürger des Cantons selbst unterworfen sind.

Art. 2. Bern ist Hauptstadt Helvetiens

Art. 3. Das helvetische Gebiet ist in Cantone eingetheilt. Diese Cantone sind:
1) Bern, in seinen alten Grenzen, mit Inbegriff der vormaligen Voigtei Schwarzenburg, und des sogenanten welschen Sanenlandes; und mit Ausnahme des Waadtlandes und des Aargaus;
2) Zürich, in seinen dermaligen Grenzen;
3) Lucern, ebenso;
4) Uri, mit dem Livinerthal;
5) Schwyz, mit Einsiedeln, der March, den Höfen Gersau und Küßnacht;
6) Unterwalden, mit Inbegriff des Thals Engelberg;
7) Zug, in seinen alten Grenzen;
8) Glarus, ebenso;
9) Solothurn, ebenso;
10) Freiburg, ebenso, mit der vormaligen Voigtei Murten;
11) Basel, in seinen alten Grenzen;
12) Schafhausen, mit Dissenhofen und Stein am Rhein;
13) Appenzell, in seinen alten Grenzen;
14) St. Gallen, Stadt und Landschaft, vergrößert durch das Toggenburg und das Rheinthal, nebst Sax, Gams, Werdenberg, Sargans, Gaster, Uznach und Rapperswyl;
15) Thurgau;
16) Aargau;
17) Baden, in seinen jetzigen Grenzen;
18) Waadtland, in seinen jetzigen Grenzen;
19) Bünden, ebenso;
20) Tessin;
21) Wallis.

Falls in Zukunft noch andere Gegenden mit Helvetien vereiniget werden; so wird das Angemessene, in Rücksicht auf ihre Cantonaleintheilung, verfügt werden.

Art. 4. Sollten in Ansehung einzelner Grenzgemeinden oder Höfe, rücksichtlich auf die Cantonseintheilung, sich in Zukunft Anstände ergeben; so wird der helvetische Senat solche berichtigen.

Zweiter Abschnitt
Religion und Kirchenwesen.

Art. 5. Die christliche Religion, nach dem katholischen und reformirten Glaubensbekenntniß, ist die Religion des Schweizervolkes und seiner Regierung, und steht unter dem besondern Schutz der Staats. Jedoch ist keine Religionspartei, deren Lehrsätze und Einrichtungen der sittlichen und bürgerlichen Ordnung nicht zuwiderlaufen, von der Ausübung ihres Gottesdienstes ausgeschlossen.

Art. 6. Wenn in Rücksicht auf die Ausübung des Gottesdienstes, oder anderer Verhältnisse, zwischen beiden Religionsgesellschaften Streitigkeiten entstehen würden; so hat der helvetische Senat solche zu entscheiden.

Art. 7. Den Kirchen beider Glaubensbekenntnisse, den geistlichen Corporationen, so wie allen wohlthätigen Stiftungen, wird ihr Eigenthum durch die Verfassung zugesichert, mit Vorbehalt der schuldigen Abgaben und der weltlichen Oberaufsicht über die Verwaltung und Benutzung desselben.

Art. 8. Alle geistlichen Güter überhaupt können nur allein zu religiösen und sittlichen Bildungs- oder Armen- und Krankenanstalten verwendet werden.

Art. 9. Über alle den Bedürfnissen der Zeit und der katholischen Religionsgesellschaft angemessene Reformen, in Ansehung der geistlichen Ordensgesellschaften, kann nur durch Einverständniß zwischen den höhern geistlichen Autoritäten und der gemeinsamen helvetischen Regierung verfügt werden.

Dritter Abschnitt
Allgemeine und Cantonalbefugnisse.

Art. 10. Es soll eine gemeinsame Organisation der Republik, für die Ausübung der Nationalsouverainität, und eine Cantonalorganisation seyn.

Art. 11. Die gemeinsame Organisation umfaßt:
1) die politischen und diplomatischen Verhältnisse im Auslande, auch in kirchlichen Angelegenheiten, in soweit es von der weltlichen Gewalt anhängt;
2) die bewaffnete Macht für die innere und äußere Sicherheit der Republik, mit Inbegriff der Miliz- und Marechausseeanstalten, der Kriegsvorräthe, Zeughäuser und Festungswerke;
3) das allgemeine höhere Polizeiweisen; mithin:
    a) den Straßen- und Brückenbau, und gemeinnützige Kanäle,
    b) das Sanitätswesen,
    c) die Sicherheits- und Criminalpolizei;
    d) die Handwerks- und Gewerbspolizei;
    e) das Zollwesen.
Über alle diese Gegenstände aber kann die Centralregierung nur Pläne und allgemeine Verordnungen, auf verfassungsmäßige Genehmigung der Cantone, entwerfen, denen alsdann die Ausführung obliegt.
4) die Oberaufsicht über die Verwaltung der bürgerlichen und peinlichen Rechtspflege, nach Inhalt des sechsten Abschnittes;
5) die Bestimmung der Beiträge an die Staatsausgaben, welche die Cantone, nöthigenfalls, nach Maaßgabe ihrer Kräfte zu liefern haben;
6) die Nationalverwaltung, Salz-, Posten-, Salpeter- und Pulverhandel, die bestehenden, oder noch zu eröffnenden Bergwerke , nebst den dazu gehörigen Waldungen und übrigen Benutzungsmitteln, nach den nähern Bestimmungen eines besondern Gesetzes; alle verfassungsmäßig genehmigte indirecte Abgaben und Ein- und Ausfuhrgebühren; überhaupt alles rechtmäßige Nationaleigenthum;
7) die Verfertigung und Polizei der Münzen;
8) die allgemeine Oberaufsicht über den Handel und die Freiheit des Verkehrs im Innern, besonders in Absicht auf die ersten Bedürfnisse, nebst der Oberaufsicht über die gesetzlich eingeführten Gewichte und Maaße;
9) die Oberaufsicht über den öffentlichen Unterricht, durch das Mittel der obersten Cantonsbehörden. Die Errichtung einer Nationaluniversität, mit einer absonderlichen theologischen Facultät, für jede der beiden Religionsgesellschaften, nebst der diesfälligen Oberaufsicht;
10) die Garantie der verschiedenen Cantonalverfassungen.

Art. 12. Die besondere Organisation jedes Cantons begreift:
1) die Erhebung und Vertheilung der Abgaben für die allgemeinen Staatsbedürfnisse;
2) die Festsetzung der Bedürfnisse des Cantons, und der Mittel, dieselben durch Anlagen zu befriedigen;
3) die Polizei und Rechtspflege, nach Inhalt des wsechsten Abschnittes;
4) die Verwaltung und Benutzung der jedem Cantone zuständigen Güter und Domainen, mit Inbegriff der Zehnten, Grund- oder Bodenzinse, und auch der bisherigen Weg- und Brückengelder und Localzölle, unter Verpflichtung der gebührenden Unterhaltung der Straßen und Brücken;
5) der Gottesdienst, die Entschädnisse der Geistlichen und Schullehrer, die besondern Erziehungs-, Unterrichts- und öffentlichen Armen- und Krankenanstalten. Zur Bestreitung der Ausgaben für diese Gegenstände soll der Ertrag der Domainen, so wie jener der Cantonalzehnten und Bodenzinse, besonders angewiesen seyn. Übrigens bleiben Zehnten und Bodenzinse, nach ihrem wahren Werthe, und unparteilicher Schatzung, loskäuflich, worüber die Centralregierung das Nöthige verfügen wird.

Vierter Abschnitt
Allgemeine Verfassung.

Art. 13. Die gemeinsame Organisation der Republik ist aus einer Tagsatzung und einem Senate zusammengesetzt.

Tagsatzung

Art. 14. Die Tagsatzung besteht aus den vereinigten Stellvertretern aller Cantone, und zwar, bis zu einer verfassungsmäßigen Abänderung, in folgendem Annäherungs-Verhältniß ihrer Bevölkerung:
Bern    6
Zürich    5
Lucern    3
Uri    1
Schwyz    2
Unterwalden    1
Zug    1
Glarus    1
Solothurn    2
Freiburg    3
Basel    2
Schafhausen    1
Appenzell    2
St. Gallen    4
Thurgau    2
Aargau    2
Baden    2
Waadtland    4
Bünden    3
Tessin    3
Wallis    2.

Art. 15. Die Mitglieder der Tagsatzung sollen durch die Cantone entschädigt werden. Sie bleiben drei Jahre im Amte.

Art. 16. Gewöhnlicher Weise versammelt sich die Tagsatzung alljährlich auf den 1. März. Außerordentlicher Weise beruft sie der Senat zusammen, so oft die Mehrheit der Cantone solches verlangt, oder er selbst es nothwendig findet.

Art. 17. Sie wird von dem Landamman, der nicht im Amte ist, präsidirt, welchem auch, im Falle gleich getheilter Stimmen, das Entscheidungsrecht zukommt. Eine Deputation von vier Senatsgliedern wohnt derselben bei, um an den Beratschlagungen Theil zu nehmen, jedoch ohne ein Stimmrecht dabei auszuüben.

Art. 18. Die Tagsatzung ist beauftragt, die im Senate erledigten Stellen wieder zu besetzen.

Art. 19. Sie untersucht und nimmt die Rechnungen des Nationalschatzamtes ab, welche in zweckmäßiger Form alljährlich durch den Druck bekannt gemacht werden.

Art. 20. Sie entscheidet über Klagen der Cantone, gegen die Verfügungen des Senats.

Art. 21. Der Tagsatzung kommt die Berathung und unbedingte Annahme oder Verwerfung der Gesetze zu, in den Fällen, wo einem vom Senate den Cantonen zugesandten Gesetzvorschlag nicht zwei Dritttheile der Cantone beigestimmt haben, der Senat aber auf seinem Vorschlage besteht.

Art. 22. Die Tagsatzung allein ist befugt, auf den Vorschlag des Senates, den Krieg zu erklären, Frieden und Bündnisse zu schließen und Verträge zu bestätigen.

Art. 23. Sie bestimmt alljährlich, auf den Vorschlag des Senats, die stehende Truppenmacht nach jeweiligen Bedürfnissen.

Art. 24. Beim Anfang jedes Zusammentritts der Tagsatzung wird der Senat die Dauer derselben bestimmen, kann aber nöthigenfalls solche auch verlängern.

Senat

Art. 25. Der Senat besteht aus zwei Landammännern, zwei Statthaltern  und 26 Räthen. Jeder Canton soll ein Mitglied darin haben, zu welchem Ende die oberste Cantonalbehörde der Tagsatzung drei Subjecte zur Auswahl vorschlägt. Die Übrigen werden so gewählt, daß keinem Canton mehr als drei Mitglieder zukommen.

Art. 26. Der Senat entwirft die Gesetzvorschläge und legt sie den Cantonen vor.

Art. 27. Er beschließt alle Maaßregeln und Verordnungen, welche die Nationalverwaltung und die allgemeine Polizei betreffen.

Art. 28. Er entscheidet in politischen und administrativen Streitsachen zwischen den Cantonen, oder wenn Streitigkeiten in einzelnen Cantonen auf die Garantie der Cantonalverfassungen Bezug haben.

Art. 29. Er zeigt der Tagsatzung die Cantonalbehörden an, welche sich Eingriffe in die gemeinsame Verfassung zu Schulden kommen lassen.

Art. 30. Er wählt aus seiner Mitte die beiden Landammänner und ihre zwei Statthalter. Alle vier bleiben zehn Jahre im Amte; die übrigen Senatoren nur fünf Jahre, können aber wieder gewählt werden. Die Art des Austritts wird gesetzlich bestimmt.

Art. 31. Die Landammänner führen wechselweise den Vorsitz im Senat, jeder ein Jahr lang. Der Statthalter des Landammans, der den Vorsitz führt, ist sein Stellvertreter in Fällen von Krankheit oder Abwesenheit. Beide Landammänner können nicht von gleicher Religion seyn.

Art. 32. Der Senat ernennt aus seiner Mitte einen kleinen Rath, der unter gleichem Vorsitze steht wie der Senat.

Art. 33.  Derselbe besteht, neben den beiden Landammännern und ihren zwei Statthaltern, aus sieben Gleidern. Unter diesen sämmtlichen Mitgliedern können sich nicht mehr als zwei aus dem nämlichen Canton befinden.

Art. 34. Der kleine Rath ist mit der Vollziehung der Gesetze beauftragt.

Art. 35. Er entwirft die Verwaltungsbeschlüsse oder Verordnungen, welche hernach durch den gesammten Senat angenommen werden, und wacht über ihre Vollziehung.

Art. 36. Er kann nach Vorschrift eines organischen Gesetzes unter seine Glieder nachfolgende Regierungsfächer abtheilen: innere Angelegenheiten, Rechtspflege, Finanzen und Krieg.

Art. 37. Den Landammännern und ihren beiden Statthaltern kommt die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten zu. Sie bedienen sich eines Staatssecretairs zu diesem Behuf, der von dem Senat außer seiner Mitte ernannt wird. Die ordentlichen diplomatischen Agenten werden von eben demselben, auf gedoppelten Vorschlag der beiden Landammänner und Statthalter, ernannt und abgerufen.

Art. 38. Alle Beamten der allgemeinen Verwaltung sind dem kleinen Rath untergeordnet, auf dessen dreifachen Vorschlag sie von dem Senat ernannt werden, welcher sie auch zu entsetzen hat.

Art. 39. Der Landamman, welcher im Amte ist, bezieht einen Gehalt von 15.000 Franken. Der zweite Landamman, die zwei Statthalter und die übrigen Gleider des kleinen Raths beziehen einen Gehalt von 6.000 Franken, und die übrigen Senatsgleider von 4.000 Franken.

Art. 40. Der Senat kann sich vertagen, jedoch nicht für länger als drei Monate. Während dieser Vertagung liegt die vollziehende Gewaalt in den Händen des kleinen Raths, der sie, mit Ausnahme der Gesetzesvorschläge, in ihrem ganzen Umfange ausübt. In außerordentlichen Fällen kann der Senat, vor Ende der Vertagung, von dem kleinen Rathe wieder zusammen berufen werden.

Art. 41. Diese Vertagung darf nicht Statt haben während der drei Wochen, welche dem Zusammentritte der Tagsatzung zunächst vor- oder nachgehen.

Art. 42. Der Senat soll sich vom kleinen Rathe Rechenschaft von seiner Geschäftsführung, während der Vertagung, geben lassen. Er kann ihm Verhaltungsbefehle ertheilen.

Fünfter Abschnitt
Cantonalorganisation.

Art. 43. Jeder Canton hat seine besondere Verwaltungsorganisation mit den oben bestimmten Befugnissen; dieselbe wird den örtlichen Erfordernissen angepaßt seyn.

Art. 44. Die obersten Cantonalbehörden berathschlagen über die Gesetzvorschläge, die ihnen vom Senat vorgelegt werden; sie nehmen dieselben an, oder verwerfen sie, und seinden ihr Befinden an den Senat.

Art. 45. Sie sind zur Vollziehung der allgemeinen gesetze der Republik, unter ihrer Verantwortlichkeit verpflichtet. Die Centralregierung wird ihre besondern Aufträge an eine, aus diesen Behörden eigens gewählte, Magistratsperson gelangen, und, im Falle sie nicht befolgt würden, unmittelbar vollziehen lassen. Zur Auswahl jener Magistratsperson, werden die obersten Cantonalbehörden ihren Präsidenten, nebst zwei Mitgliedern, der Centralregierung vorschlagen.

Sechster Abschnitt
Rechtspflege.

Art. 46. Die Organisation und Verwaltung der peinlichen und bürgerlichen Rechtspflege wird unter nachfolgenden Bestimmungen den Cantonen überlassen.

Art. 47. Die richterliche Gewalt soll in allen Cantonen von der administrativen getrennt werden, ohne daß deswegen ein Mitglied der einen nicht auch zugleich ein Gleid der andern seyn könne. Auch sollen in keinem Cantone mehr als zwei Instanzen eingeführt werden.

Art. 48. Die Centralregierung wird ein Criminalgesetzbuch und eine Criminalprozeßform für ganz Helvetien, sobald möglich, der vefassungsgemäßen Genehmigung unterwerfen.

Art. 49. Eben dieselbe wird allgemeine Handelsgesetze und, gutfindenden Falls, die Errichtung besonderer Handelsgerichte den Cantonen zur Genehmigung vorschlagen.

Art. 50. Es soll ein oberster Gerichtshof von 11 Mitgliedern errichtet werden, wovon nicht mehr als eines aus dem nämlichen Canton seyn kann.

Art. 51. Die Stellen in diesem Gerichtshof sind nach einmal erhaltener Bestätigung lebenslänglich.

Art. 52. Zu der ersten Auswahl werden von dem Senate 22 Personen, und von jeder obersten Cantonsbehörde eine Person, der helvetischen Tagsatzung vorgeschlagen. Bei nachherigen Erledigungen schlägt der Senat zwei, und der oberste Gerichtshof selbst zwei andere Bürger der Tagsatzung zur Auswahl vor.

Art. 53. Von den erstgewählten 11 Oberrichtern treten jedes Jahr zwei durch das Loos aus, und das sechste Jahr der letzte, jedoch so, daß jeder Ausgelosete unmittelbar wieder den doppelten Vorschlägen an die Tagsatzung beigefügt wird, die nach Inhalt des vorherigen Artikels in allen Erledigungsfällen Statt finden sollen. Auf die nämliche Weise ist jeder, im Lauf obiger sechs Jahre, oder nachwärts neugewählte Oberrichter, zwei Jahre nach seiner Ernennung, der Bestätigung durch die Tagsatzung unterworfen.

Art. 54. Die Mitglieder des obersten Gerichtshofs beziehen den gleichen Gehalt, wie die Glieder des Senats.

Art. 55. An den obersten Gerichtshof findet Appellation in Civilfällen Statt, wenn sie über 3000 Franken an Werth betragen, und dabei zugleich entweder der helvetische Staat selbst, oder irgend ein Canton, oder eine landsfremde Person, oder ein Bürger eines andern Cantons die eine Partei ausmacht.

Art. 56. Falls eine oberste Cantonsbehörde dem Interesse ihres Cantons angemessen findet, daß auch in andern wichtigen Streitfällen zwischen ihren Cantonsbürgern Appellation an den obersten Gerichtshof Statt finden solle; so kann sie selbst die Competenz in Rücksicht auf solche Fälle bestimmen.

Art. 57. Alle Criminalurtheile, wodurch ein Verbrecher zum Tode, oder zu einer Einsperrung von nicht weniger als 10 Jahren verurtheilt worden ist, können an den obersten Gerichtshof appellirt werden. Die nämliche Appellation  findet in Fällen Statt, wo ein helvetischer Bürger für 10 oder mehrere Jahre des Landes verwiesen worden ist.

Art. 58. Das Begnadigungsr3echt in Bezug auf alle solche Fälle kommt dem Senat zu.

Art. 59. Jeder, der wegen eines politischen Vergehens von irgend einer richterlichen Cantonsbehörde zu einer infamirenden Strafe, oder zu einer Buße nicht weniger als 500 Franken verurtheilt worden ist, kann an den obersten Gerichtshof als an die letzte Instanz, recurriren.

Art. 60. Ein besonderes Gesetz wird die Befugnisse der Cantone in Rücksicht auf Confiscationen und die damit verbundenen Bußen bestimmen.

Art. 61. Alle Klagen gegen öffentliche, von der Centralregierung angestellte, Beamte über mißbrauchte Gewalt oder gethanes Unrecht, können ebenfalls vor den obersten Gerichtshof appellationsweise gebracht werden.

Art. 62. Eben so kann jede Klage über Rechtsverweigerung, Bestechung oder Mißbrauch der Gewalt gegen irgend einen Richter an dieses Obertribunal letzt instanzlich gelangen.

Art. 63. Dem obersten Gerichtshof liegt endlich ob, das Betragen aller höhern und niedern Gerichtshöfe zu beobachten, und die sich etwa zeigenden Mißbräuche oder Unordnungen der Centralregierung zur gesetzlichen Abhülfe durch die Cantonalbehörden bekannt zu machen.

Art. 64. Nach Vorschrift eines besondern organischen Gesetzes werden die Mitglieder des helvetischen Senats, oder des obersten Gerichtshofes, im Fall sie eines Staatsverbrechens angeklagt werden, von einem Tribunal beurtheilt, welches aus den Präsidenten der obersten richterlichen Cantonsbehörden zu bilden ist.

Siebenter Abschnitt
Wählbarkeitsbedinge, ect.

Art. 65. Niemand darf zu den National- oder Cantonalämtern wählen, oder gewählt werden, wenn er nicht
1) helvetischer Bürger ist;
2) das Alter von 20 Jahren zurückgelegt hat;
2) ein Eigenthum in Helvetien besitzt; oder einen unabhängigen Beruf hat.

Der Betrag dieses Eigenthums wird vonjedem Canton bestimmt werden. Dasselbe soll für Cantonalämter das Doppelte desjenigen seyn, das für Districtsstellen erfordert wird, für Nationalstellen aber das Dreifache desjenigen, so die Cantonalämter erheischen. Über die Erwerbung, Ausübung, Einstellung und Verlust des helvetischen Bürgerrechts wird ein künftiges Gesetz das Nähere bestimmen.

Vorstehende Verfassung verstand die Verfassung vom 29. Mai 1801 als ihre Grundlage, ebenso wie die, nur für wenige Tage in Kraft befindlichen Verfassung vom 24. Oktober 1801.

Die am 28. Oktober 1801 an die Regierung gekommenen Konservativen haben mit der französischen Regierung im Dezember 1801 Veränderungen an der Verfassung vom 29. Mai 1801 (der damals geltenden Verfassung) "verabredet", die dann in die vorstehende Staatsverfassung vom 27. Februar 1802 einflossen, der vom Senat, der nach der Verfassung vom 29. Mai 1801 eingerichtet war, knapp mit 12 gegen 11 Stimmen angenommen wurde.

Die vorstehende Verfassung war jedoch nur wenige Monate in Kraft, Es kam am 28. April 1802 zu einer Art Staatsstreich, da nach einer Vertagung des Senats der kleine Rat in aller Eile weit reichende gesetzliche Maßnahmen anordnete, die von einigen Kantonen gänzlich und vehement abgelehnt oder aber nur unter Bedingungen angenommen wurde. Der "Staatsstreich" wurde von der französischen Besatzungsmacht unterstützt.

Es kam zur Einsetzung einer Versammlung aus Notablen (also Angehörigen der Oberschicht der Schweiz), die bereits am 30. April 1802 zusammentrat und dem Volk einen Verfassungsentwurf vorlegte. Der gemäß der Verfassung vom 27. Februar 1802 eingesetzte kleine Rat (in geänderter Zusammensetzung) war an diesem Verfassungsentwurf beteiligt.

Der Verfassungsentwurf, die "Verfassung der Notablen", vom 20. Mai 1802 wurde zwar formal den Kantonen vorgelegt und mit Mehrheit angenommen, aber der Protest aus den innerschweizer Kantonen war stark. Der kleine Rat hat den Verfassungsentwurf am 2. Juli 1802 zum Staatsgrundgesetz Helvetiens erklärt.


Quellen: K.H.L. Pölitz, Die europäischen Verfassungen seit dem Jahre 1789, Brockhaus Leipzig 1833
© 5. Mai 2005

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