Verfassungsgesetz der Republik und des Kantons Tessin

vom 2. Juli 1892

geändert durch
Dekret vom 18. Juni 1893,
Verfassungsdekret vom 8. November 1894,
Dekret vom 21. Januar 1910,
Gesetzesdekret vom 12. Juli 1916,
Gesetzesdekret vom 4. Oktober 1920,
Verfassungsdekret vom 6. September 1922,
Verfassungsdekret vom 17. Oktober 1927,
Verfassungsdekret vom 11. November 1934,
Verfassungsdekret vom 9. Dezember 1934,
Verfassungsdekret vom 15. Januar 1946,
Verfassungsdekret vom 1. Februar 1951,
Verfassungsdekret vom 25. November 1951.

aufgehoben durch
Verfassung vom 29. Oktober 1967

 

Der Verfassungsrath
der Republik und des Kantons Tessin

verordnet:

Art. 1. Die Souveränität des Kantons beruht ihrem Wesen nach in der Gesammtheit der Bürger. Sie wird vom Volke entweder direkt in der durch die Verfassung angegebenen Weise oder durch die, unter sich verschiedenen und getrennten, drei Gewalten,
    die gesetzgebende
    die vollziehende und
    die richterliche Gewalt,
ausgeübt.

Art. 2. Die gesetzgebende Gewalt wird von einem direkt vom Volke gewählten Großen Rathe ausgeübt. Auf je eintausend zweihundert Seelen der niedergelassenen tessinischen und schweizerischen Bevölkerung wird ein Abgeordneter gewählt.

Ein Bruchtheil, der nicht weniger als die Hälfte beträgt, wird als ein ganzes berechnet.

Von der Berechnung der Bevölkerung sind, abgesehen von den Ausländern, diejenigen Tessiner ausgeschlossen, welche ihren hauptsächlichen und dauernden Wohnsitz außerhalb des Kantons haben. Zu diesem Kategorie gehören die Tessioner nicht, die in öffentlicher, eidgenössischer oder kantonaler, Dienststellung im Auslande wohnen.

Durch das Gesetzesdekret vom 4. Oktober 1920 erhielt der Art. 2 folgende Fassung (Art. 1 des Dekrets):
"Art. 2. Die gesetzgebende Gewalt wird von einem direkt vom Volke gewählten Großen Rate von 75 Mitgliedern ausgeübt.
Le stesse norme valgono per la Costituente."

Durch das Verfassungsdekret vom 6. September 1922 erhielt der Art. 2 folgende Fassung (Art. 1 des Dekrets):
"Art. 2. Die gesetzgebende Gewalt wird von einem direkt vom Volke gewählten Großen Rate von 65 Mitgliedern ausgeübt.
Le stesse norme valgono per la Costituente."

Art. 3. Die Ernennung der Abgeordneten in den Großen Rath und in den Verfassungsrath findet nach dem proportionalen Wahlsystem statt, wobei es dem Wähler freisteht, für Kandidaten verschiedener Gruppen zu stimmen. Der Wahlquotient entstehet, wenn man die Gesammtsumme der von den verschiedenen Gruppen in dem betreffenden Kreise erhaltenen Stimmen durch die um eins vermehrte Zahl der zu wählenden Abgeordneten theilt.

Die Gruppen, welche diesen Quotienten nicht erreicht haben, fallen bei der Zutheilung außer Betracht.

Das Gesetz bestimmt das nähere Verfahren für die Handhabung des proportionalen Wahlsystems und umschreibt die Wahlkreise; letztere dürfen die Zahl 12 nicht übersteigen. Dei Zahl der in einem Kreise zu wählenden Abgeordneten muß eine ungerade sein und mindestens fünf betragen.

Die Mitglieder des Großen Rathes stehen vier Jahre im Amt und sind immer wieder wählbar.

Die Wahlen in den Großen Rath finden alle vier Jahre je am ersten Sonntag im März statt.

§. Ersatzwahlen für nicht mehr als zwei Abgeordnete erfolgen nach dem System der absoluten Mehrheit.

Durch das Dekret vom 18. Juli 1904 wurde der Art. 3 aufgehoben und durch folgende Bestimmung ersetzt:
    siehe den Einzigen Artikel Abs. 1 des Dekrets.

Durch das Gesetzesdekret vom 12. Juli 1916 erhielt der Art. 3 erneut aufgehoben und ersetzt durch folgende Bestimmung:
    siehe den Art. 1 des Gesetzesdekrets.

Durch das Gesetzesdekret vom 4. Oktober 1920 erhielt der Art. 3 folgende Fassung
    siehe den Art. 2 des Gesetzesdekrets.

Durch das Verfassungsdekret vom 6. September 1922 erhielt der Art. 3 folgende Fassung
    siehe den Art. 2 des Verfassungsdekrets.

Durch das Verfassungsdekret vom 17. Oktober 1927 erhielt der Art. 3 folgende Fassung
    siehe den Art. 1 des Verfassungsdekrets.

Durch das Verfassungsdekret vom 11. November 1934 erhielt der Art. 3 folgende Fassung
    siehe den Art. 1 des Verfassungsdekrets.

Durch das Verfassungsdekret vom 15. Januar 1946 wurde der Art. 3 aufgehoben und ersetzt durch den Art. 2 des Verfassungsdekrets.

Art. 4. Der Große Rath hält jedes Jahr zwei ordentliche Tagungen, von denen die erste am dritten Montag im April und die zweite am ersten Montag im November eröffnet wird.

Außerdem versammelt er sich in außerordentlicher Tagung, wenn er einberufen wird:
a. vom Staatsrath;
b. vom Präsidenten des Großen Rathes, auf ein schriftliches Gesuch von wenigstens dreißig Mitgliedern dieser Behörde hin. In diesem Gesuche muß der Berathungsgegenstand angegeben sein.

§. Die Tagungen dürfen nicht ohne die Zustimmung des Staatsrathes geschlossen werden, wenn nicht der Große Rath alle ihm vorgelegten Gegenstände berathen hat.

Art. 5. Der Große Rath wählt für jede Tagung seinen Präsidenten, der für die nächstfolgende nicht wieder wählbar ist.

Durch das Gesetzesdekret vom 12. Juli 1916 erhielt der Art. 3 erneut aufgehoben und ersetzt durch folgende Bestimmung:
"Art. 5. In der Frühjahrssession eines jeden Jahres wählt der Große Rat einen Präsidenten; dieser bleibt ein Jahr lang im Amte und ist das nächstfolgende Mal nicht wieder wählbar."

Art. 6. Der Große Rath hat folgende Befugnisse:
1. Er prüft die Wahlakten seiner Mitglieder.
2. Er nimmt an, ändert ab oder verwirft die Vorschläge für Gesetze oder Beschlüsse, die ihm in der für die Ausübung des Initiativrechts festgestellten Form vorgelegt werden.
3. Er bestimmt die Steuern und bewilligt die Ausgaben und Anleihen zu Lasten des Staates, mit Ausnahme derjenigen, die durch die Einnahmen des laufenden Geschäftsjahres gedeckt werden müssen.
4. Er stellt auf den Vorschlag des Staatsrathes das Büdget der Einnahmen und Ausgaben des Staates fest.
5. Er prüft alljährlich die Verwaltung und Rechnungsführung des Staates auf Grund eines vom Staatsrath zu erstattenden Berichtes und verhandelt über deren Genehmigung.
6. Er bewilligt oder genehmigt die Veräußerung von Staatsgut.
7. Er setzt die Besoldungen der öffentlichen Beamten und Angestellten fest, insofern nicht das Gesetz deren Bestimmung dem Staatsrathe zuweist.
8. Er bewilligt und genehmigt die Verträge übe den Salzankauf.
9. Er trifft die ihm laut Verfassung oder Gesetz zustehenden Wahlen.
10. Er nimmt die Berichterstattung des Staatsrathes über die Ausführung der Gesetze, Beschlüsse und Verordnungen entgegen.
11. Er übt das Recht der Amnestie und der Begnadigung aus.
12. Er beschließt über die Aufnahme in's Kantonsbürgerrecht.
13. Er übt alle Souveränitätsbefugnisse aus, die nicht in der Verfassung ausdrücklich einer andern Behörde vorbehalten sind.

Art. 7. Der Große Rath kann nicht berathen, wenn nicht die absolute Mehrheit seiner Mitglieder anwesend ist.

Art. 8. Die Sitzungen des Großen Rathes sind öffentlich, außer in den Fällen, wo mit zwei Dritteln der Stimmen anders verfügt wird.

Art. 9. Der Große Rath stellt ein Geschäftsreglement für seine Verhandlungen und Berathungen auf.

Art. 10. Das Recht der Initiative in Gesetzgebungssachen kommt zu:
1. dem Staatsrath;
2. jedem Mitglied des Großen Rathes;
3. dem Volke.

§ 1. Die Mitglieder des Großen Rathes üben das Recht der Initiative aus:
a. indem sie den Entwurf zu einem Gesetze oder einem Beschlusse einbringen;
b. indem sie den Antrag stellen, der Staatsrath oder der Große Rath sei einzuladen, durch eine Gesetzgebungskommission oder eine nicht aus seiner Mitte gewählten Spezialkommission einen Gesetzentwurf über einen bestimmten Gegenstand ausarbeiten zu lassen.

§ 2. Unter Volksinitiative ist das Recht verstanden, dem Großen Rathe die Annahme, die Ausarbeitung, die Abänderung oder die Aufhebung eines Gesetzes oder eines Beschlusses zu beantragen.

Das Begehren muß von mindestens fünftausend stimmberechtigten Bürgern unterzeichnet sein.

Das Gesetz bestimmt das nähere Verfahren bei der Ausübung des Volksrechts der Initiative und dessen Tragweite im Verhältnisse zu den Befugnissen des Großen Rathes.

Art. 11. Dem Staatsrathe steht die Befugniß zu, einen aus seiner Initiative hervorgegangenen Entwurf eines Gesetzes oder eines Beschlusses vor der endgültigen Annahme zurückzuziehen.

Art. 12. Ebenso kann auch ein Abgeordneter, der vermöge seines Initiativrechts den Entwurf zu einem Gesetze oder einem Beschlusse eingebracht hat, diesen vor seiner endgültigen Annahme zurückzuziehen. Es steht jedoch einem andern Abgeordneten frei, den von seinem Kollegen fallen gelassenen Antrag wieder aufzunehmen.

Art. 13. Jeder Entwurf eines Gesetzes oder eines Beschlusses muß vom Großen Rathe in zwei Lesungen, die in zwei verschiedenen Tagungen stattfinden, berathen und angenommen werden, außer wenn der Staatsrath erklärt, er nehme das Gesetz oder den Beschluß in der vom Großen Rathe in der ersten Lesung gutgeheißenen Form an.

Zwischen der ersten und zweiten Lesung wird der Entwurf dem Staatsrathe zur Begutachtung zurückgestellt.

Art. 14. Die Abgeordneten in den Ständerath werden direkt vom Volke gewählt.

Sie bleiben drei Jahre im Amte und sind stets wiederwählbar.

Die Wahl findet alle drei Jahre am letzten Sonntag des Monats Februar in einem einzigen Wahlkreise statt.

Durch das Verfassungsdekret vom 15. Januar 1946 wurde der Art. 14 aufgehoben und ersetzt durch den Art. 4 des Verfassungsdekrets.

Art. 15. Die vollziehende Gewalt wird von einem aus fünf Mitgliedern bestehenden Staatsrath ausgeübt, der vom Volke direkt in einem aus dem ganzen Kanton bestehenden Wahlkreise gewählt wird. Die Wahl geschieht nach dem Proportionalsystem, wobei es dem Wähler frei steht, für Kandidaten verschiedener Gruppen zu stimmen.

Die Mitglieder des Staatsraths stehen vier Jahre im Amt und sind immer wiederwählbar.

§ 1. Bei den Ersatzwahlen für nicht mehr als zwei Staatsräthe entscheidet die absolute Mehrheit.

§ 2. Der Staatsrath erwählt aus seiner Mitte einen Präsidenten, einen Vicepräsidenten und den Staatsschreiber; ihre Amtsdauer beträgt ein Jahr.

Der Präsident ist nicht sofort wiederwählbar.

§ 3. Dem Volke wird das Recht der Abberufung des Staatsraths eingeräumt.

Das Gesetz stellt die Ausübung dieses Rechtes fest.

Durch das Dekret vom 18. Juli 1904 wurde der Art. 15 aufgehoben und durch folgende Bestimmung ersetzt:
    siehe den Einzigen Artikel Abs. 2 des Dekrets.

Durch das Gesetzesdekret vom 4. Oktober 1920 erhielt der Art. 3 folgende Fassung
    siehe den Art. 2 des Gesetzesdekrets.

Durch das Verfassungsdekret vom 6. September 1922 erhielt der Art. 15 folgende Fassung
    siehe den Art. 3 des Verfassungsdekrets.

Durch das Verfassungsdekret vom 17. Oktober 1927 erhielt der Art. 15 folgende Fassung
    siehe den Art. 2 des Verfassungsdekrets.

Durch das Verfassungsdekret vom 9. Dezember 1934 erhielt der Art. 15 folgende Fassung
    siehe den Art. 1 des Verfassungsdekrets.

Durch das Verfassungsdekret vom 25. November 1951 wurde der Art. 15 aufgehoben und ersetzt durch den Art. 1 des Verfassungsdekrets.

Art. 16. Die richterliche Gewalt wird ausgeübt:
a. Von den Friedensrichterämtern;
b. von den Gerichten erster Instanz;
c. vom Appellationsgericht.

Das Gesetz bestimmt die Befugnisse dieser Behörden.

Durch das Dekret vom 21. Januar 1910 wurde der Art. 16 aufgehoben und ersetzt durch den Art. 1 des Dekrets.

Art. 17. Jedes Friedensrichteramt besteht aus einem Friedensrichter, einem Stellvertreter und einem Sekretär, der zugleich Beisitzer ist. Diese Beamten werden in den Gemeindeversammlungen des Kreises direkt vom Volke gewählt.

Die Mitglieder des Friedensrichteramtes werden auf vier Jahre ernannt und sind immer wieder wählbar.

Durch das Dekret vom 21. Januar 1910 wurde der Art. 17 aufgehoben und ersetzt durch den Art. 2, 3 und 8 des Dekrets.

Art. 18. In den Bezirken Bellenz-Riviera zusammengenommen und in einem jeden andern besteht ein aus drei Mitgliedern zusammengesetztes Gericht erster Instanz zur Beurtheilung von Civil- und Kriminalsachen.

Die Mitglieder der Gerichte werden in den zu dem Bezirke gehörenden Gemeinden vom Volke direkt gewählt.

Jeder Gerichtsbezirk ernennt außerdem sechs Ersatzmänner.

Außer in dem in folgenden Paragraphen ernannten Falle erhalten die Ersatzmänner keine Besoldung, sondern nur eine einfache Entschädigung für jeden Sitzungstag.

§ 1. Wo es nöthig ist, kann das Gesetz unter Zuhülfenahme der Ersatzmänner ein Gericht in zwei Abtheilungen theilen und diese mit je drei Mitgliedern bestellen, wobei die Befugnisse einer jeden Abtheilung genau abgegrenzt werden soll.

§ 2. Das Gesetz bestimmt die Wählbarkeitserfordernisse und die Gründe für Amtsentsetzung oder Amtseinstellung.

Durch das Verfassungsdekret vom 8. November 1894 wurden im Art. 18 Abs. 1 die Worte "und Kriminal" gestrichen; hinsichtlich der Organisation der Strafgerichtsbarkeit siehe das Verfassungsdekret vom 8. November 1894.

Durch das Dekret vom 21. Januar 1910 wurde der Art. 18 aufgehoben, da die Gerichte erster Instanz abgeschafft wurden.

Art. 19. Die Präsidenten der Gerichte erster Instanz werden in den Gemeinden der Gerichtskreise vom Volke direkt aus den Mitgliedern des Gerichtes mit dem absoluten Mehr gewählt.

Die Schreiber der Gerichte erster Instanz werden vom Großen Rathe gewählt.

Durch das Dekret vom 21. Januar 1910 wurde der Art. 19 aufgehoben, da die Gerichte erster Instanz abgeschafft wurden.

Art. 20. Für den ganzen Kanton besteht ein Appellationsgericht, das in letzter Instanz urtheilt, insoweit nicht gegentheilige Bestimmungen der Bundesverfassung und darauf bezügliche Gesetze in Civil- und Strafsachen bestehen.

Das Gesetz kann dem Appellationsgerichte direkt die Entscheidung derjenigen Civilrechtsstreitigkeiten zuweisen, bei denen ein Weiterzug ans Bundesgericht zulässig ist.

Es besteht eine aus einem Präsidenten und zwei Mitgliedern zusammengesetzte Anklagekammer. Diese letztern werden vom Großen Rathe aus den Ersatzmännern des Appellationsgerichtes gewählt.

Durch das Verfassungsdekret vom 8. November 1894 wurden im Art. 20 Abs. 1 die Worte "und Straf" gestrichen; hinsichtlich der Organisation der Strafgerichtsbarkeit siehe das Verfassungsdekret vom 8. November 1894.

Art. 21. Das Appellationsgericht besteht aus einem Präsidenten und aus sechs direkt vom Volke gewählten Mitgliedern.

Die Ernennung des Präsidenten geschieht in einem einzigen, aus dem ganzen Kanton gebildeten Wahlkreis und findet an dem Sonntage statt, der dem Wahlsonntag für die übrigen Mitglieder des Gerichts vorausgeht.

Für die Wahl der Appellationsrichter ist der Kanton in zwei Kreise getheilt, von denen der erste die Bezirke Mendrisio und Lugano, der zweite die anderen Bezirke umfaßt.

Jeder Kreis ernennt drei Richter und drei Ersatzmänner.

Die Ersatzmänner des Appellationsgerichts, welche nicht Mitglieder der Anklagekammer sind, erhalten keine Besoldung und beziehen nur ein Taggeld für jeden Sitzungstag.

Das Appellationsgericht ernennt seinen Schreiber selbst.

§. Die Wahl des Präsidenten der Anklagekammer findet nach dem für die Wahl des Präsidenten des Appellationsgerichts geltenden Verfahren statt.

Art. 22. Die allgemeinen Wahlen der Mitglieder der Gerichte erster Instanz und des Appellationsgerichts, sowie der Ersatzmänner, finden nach dem System der beschränkten Stimmgabe statt.

Das Gesetz bestimmt das dabei zu beobachtende Verfahren. Bei den Ersatzwahlen gilt die absolute Mehrheit.

§. Jedes Gericht wählt seinen Weibel.

Durch das Dekret vom 21. Januar 1910 wurden im Art. 22 die Worte "der Gerichte erster Instanz" gestrichen.

Art. 23. Der Präsident und die Mitglieder des Appellationsgerichtes müssen das juristische Doktorexamen bestanden oder die Bewilligung zur Ausübung des Advokatenberufes erlangt haben.

Das Gesetz bestimmt die Gründe für eine Amtseinstellung oder Amtsentsetzung.

Art. 24. Die Ausübung des Advokatenberufes ist unvereinbar mit der Ausübung gerichtlicher Amtsthätigkeit, abgesehen von derjenigen eines Ersatzmannes bei einem Gerichte erster Instanz oder beim Appellationsgericht.

Durch das Dekret vom 21. Januar 1910 wurden im Art. 22 die Worte "bei einem Gerichte erster Instanz oder" gestrichen.

Art. 25. Die Kantonsverfassung kann einer Total- oder einer Partialrevision unterzogen werden.

Art. 26. Die Totalrevision der Verfassung kann stattfinden:
a. infolge Initiative des Staatsraths, in der durch die Verfassung für die kantonale Gesetzgebung bestimmten Formen;
b. infolge Initiative der Mehrheit der Großrathsmitglieder;
c. infolge eines von siebentausend stimmberechtigten Bürgern in der vom Gesetze festgestellten Art und Zeitfrist eingereichten Initiativbegehrens.

In den unter b und c angeführten Fällen hat der Staatsrath dem Volke in erster Linie die Frage vorzulegen, ob es eine Revision der Verfassung wünscht oder nicht, und bejahendenfalls, ob der Entwurf vom Großen Rath oder von einem Verfassungsrath ausgearbeitet werden solle, welch' letzterer gegebenenfalls nach dem gleichen Verfahren wie der Große Rath gewählt wird.

Durch das Verfassungsdekret vom 15. Januar 1946 wurde der Art. 26 aufgehoben und ersetzt durch den Art. 5 des Verfassungsdekrets.

Art. 27. Die Partialrevision der Verfassung findet entweder infolge Initiative des Staatsrathes in der durch die Kantonalgesetzgebung bestimmten Form oder infolge eines vom Volke gestellten Initiativbegehrens statt.

Art. 28. Ein Initiativbegehren des Volkes muß von wenigstens siebentausend stimmberechtigten Bürgern eingereicht werden und die Annahme oder Abänderung oder Aufhebung bestimmter Artikel der Kantonsverfassung oder auch die Annahme gewisser Artikel und die Abänderung oder Aufhebung anderer zum Zwecke haben.

Wenn das Initiativbegehren die Annahme oder Abänderung oder Aufhebung mehrerer und auf verschiedene Gebeite bezüglicher Artikel bezweckt, so muß für jedes einzelne Gebiet ein besonderes Initiativbegehren eingereicht werden.

Das Initiativbegehren kann entweder in Form eines allgemein gehaltenen Antrags oder eines vollständig ausgearbeiteten Entwurfs gestellt werden.

Im erstern Falle ist der Große Rath verpflichtet, den Entwurf einer Partialrevision im Sinne des Begehrens auszuarbeiten.

Es steht im jedoch frei, dem aus dem Volksbegehren hervorgegangenen Entwurf einen eigenen Entwurf über den gleichen Gegenstand entgegenzustellen; beide Entwürfe müssen dann gleichzeitig der Volksabstimmung unterbreitet werden.

Im zweiten Falle wird der Entwurf, wenn der Große Rath demselben beistimmt, der Volksabstimmung zur Annahme oder Verwerfung unterstellt.

Stimmt der Große Rath nicht bei, so kann er einen eigenen Entwurf über den nämlichen Gegenstand ausarbeiten, der dann gleichzeitig mit demjenigen der Initianten der Volksabstimmung zu unterbreiten ist.

In jedem Falle muß der Große Rath zwischen den zwei auf die Einreichung des Begehrens folgenden ordentlichen Sessionen den Entwurf im Sinne des Initiativbegehrens ausarbeiten udn entweder dem Initiativbegehren ausdrücklich zustimmen oder seinen eigenen Entwurf entgegenstellen.

Durch das Verfassungsdekret vom 15. Januar 1946 wurde der Art. 28 aufgehoben und ersetzt durch den Art. 6 des Verfassungsdekrets.

Art. 29. Ein Gesetz bestimmt das nähere Verfahren bei der Ausübung des Volksrechts der Initiative, die Form der Abstimmung über die Verfassungsrevision und das für den Fall, daß mehrere Begehren zusammen vorliegen, zu beobachtenden Verfahren.

Art. 30. Eine Total- oder Partialrevision der Kantonsverfassung kann nicht vorgenommen werden, außer wenn sie absolute Mehrheit der Bürger, die an der Abstimmung theilgenommen haben, sich dafür erklärt. Die leeren Stimmzettel fallen außer Betracht.

Durch das Verfassungsdekret vom 15. Januar 1946 wurde der Art. 30 aufgehoben und ersetzt durch den Art. 7 des Verfassungsdekrets.

Art. 31. Nicht dringliche Gesetze, sowie Beschlüsse, die allgemein verbindlicher Natur sind, oder die zwar dringlich sind, aber eine Ausgabe von mehr als Fr. 200,000 bedingen, müssen der Volksabstimmung zur Annahme oder Verwerfung unterbreitet werden, wenn 5000 stimmberechtigte Bürger innerhalb eines Monats von der Veröffentlichung im Amtsblatte an ein derartiges Begehren stellen.

Die Volksabstimmung hat innerhalb des im zweiten Abschnitt des folgenden Artikels angegebenen Zeitraums stattzufinden.

Durch das Verfassungsdekret vom 1. Februar 1951 wurde der Art. 31 aufgehoben und ersetzt durch den Art. 1 des Verfassungsdekrets.

Art. 32. Die Volksabstimmungen über Total- oder Partialrevisionen der Verfassung oder über solche Gesetze und Beschlüsse, die nach Maßgabe des vorigen Artikels der Volksabstimmung zu unterbreiten sind, dürfen nur in der Zeit vom ersten Sonntag im November bis und mit dem ersten Sonntag im März stattfinden. In den in litt b. und c des Art. 25 erwähnten Fällen muß die Frage, ob man die Kantonsverfassung revidiren wolle oder nicht, und ob bejahenden Falls der Entwurf vom Großen Rathe oder von einem Verfassungsrathe auszuarbeiten sei, binnen vierzig Tagen von der Einreichung des Begehrens an der Volksabstimmung unterbreitet werden, wenn die Einreichung in den Monaten September, Oktober, November, Dezember und Januar stattgefunden hat, in den andern Fällen am ersten Sonntag im November.

Durch das Verfassungsdekret vom 15. Januar 1946 wurde der Art. 32 aufgehoben und ersetzt durch den Art. 8 des Verfassungsdekrets.

Art. 33. Die Tessiner und Schweizerbürger üben ihre politischen Rechte in der Gemeinde aus, wo sie seit drei Monate niedergelassen sind.

Die im Ausland niedergelassenen Tessiner, welche wieder im Kanton Wohnsitz nehmen, üben ihre politischen Rechte in der Gemeinde aus, wo sie seit zwanzig Tagen ihren wirklichen Wohnsitz haben.

Durch das Dekret vom 16. Juni 1893 wurde der Art. 33 (Abs. 2) aufgehoben und durch den Art. 1 des Dekrets ersetzt.

Durch das Gesetzesdekret vom 4. Oktober 1920 wurde folgender Artikel eingefügt (Art. 4 des Dekrets):
"Art. 34. Il voto è segreto Questo segreto è inviolabile. Le legge provvederà ad impedire il controllo ed ogni altra manovra che rendesse illusoria tale norma stabilita per garantire l'indipendenza del cittadino."

Übergangs- und Aufhebungsbestimmungen.

Art. 1 Die Mitglieder des Staatsrathes, des Appellationsgerichts, der Anklagekammer und der Gerichte erster Instanz, die nach Maßgabe der vor dem Inkrafttreten der gegenwärtigen Verfassungsrevision geltenden Verfassungs- oder Gesetzesbestimmungen gewählt worden sind oder noch gewählt werden, verbleiben in ihrem Amte bis zur Gesammterneuerung dieser Behörden, welche gemäß den Bestimmungen der Art. 15, 18, 19, 21 und 22 und zwar innerhalb des in Art. 32 vorgesehenen Zeitabschnittes stattzufinden hat, sobald die darauf bezüglichen Ausführungsgesetze endgültig angenommen sind.

Das Gesetz bestimmt den Zeitpunkt, an dem die Amtsperiode der gemäß den Bestimmungen der gegenwärtigen Verfassungsrevision gewählten Behörden beginnen soll.

Art. 2 Die Volksabstimmung übe die vorliegende Partialrevision findet am ersten Sonntag im Oktober statt.

Binnen acht Tagen nach der Volksabstimmung macht der Staatsrath in öffentlicher Sitzung das Ergebniß bekannt, und wenn es sich herausstellt, daß die Revision von der absoluten Mehrheit der an der Abstimmungen theilnehmenden Bürger - nach Abzug der leeren Stimmzettel - angenommen worden ist, sucht er sofort die eidgenössische Gewährleistung dafür nach.

Die theilweise revidirte Verfassung tritt mit der Annahme durch das Volk, beziehungsweise mit der Annahme durch das Volk beziehungsweise mit der Annahme der vom Verfassungsrathe auszuarbeitenden Ausführungsgesetze in Kraft Falls die vorliegende Revision von der Mehrheit des Volkes angenommen wird, versammelt sich der Verfassungsrath nochmals am zweiten Montag nach der Bekanntmachung des Ergebnisses, um zur Ausarbeitung der vorerwähntne Gesetze zu schreiten.

Die Gesetze, welche die Erneuerung der verfassungsmäßigen Behörden betreffen, müssen vom Verfassungsrathe spätestens im Laufe dieses Jahres erlassen werden.

Art. 3 Mit dem Inkrafttreten dieser Verfassungsbestimmungen sind aufgehoben:
a. die Artikel 2, 24, 25, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 40 und 47 der Verfassung vom 23. Juni 1830.
b. das Verfassungsdekret vom 1./4. März 1855;
c. das Verfassungsdekret vom 21. November 1861;
d. die Art. 4 und 15 des Verfassungsdekrets vom 20. November 1875;
e. das Verfassungsdekret vom 24. November 1876;
f.. das Verfassungsdekret vom 8. Januar 1880;
g. der erste Theil des Art. 1, die Art. 2, 5, 6 und 7 des Verfassungsdekrets vom 10. Februar 1883;
h. die Artikel 3 und 5 des Verfassungsdekrets vom 9. Februar 1891.

Außerdem jede andere entgegenstehende oder unvereinbare Bestimmung.

    Bellenz, den 2. Juli 1892.

Für den Verfassungsrath:
Der Präsident:
Advocat F. Bonzanigo.

Die Abgeordneten und Sekretäre:
Ing. E. Andreazzi,
A. Balli.

Die vorstehende Verfassungsrevision war so umfangreich, dass sie in nachfolgenden Verfassungsgesetzen  als "Verfassung" des Kantons Tessin bezeichnet wurde.


Quellen: Schweizerisches Bundesblatt 1892, S. 338
© 25. Juni 2005 - 2. Juli 2005
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