Verfassungsdekret der Republik und des Kantons Tessin

vom 24. November 1876

aufgehoben durch
Verfassungsdekret  vom 8. Januar 1880
erneut aufgehoben durch
Verfassungsgesetz vom 2. Juli 1892.

 

Das souveräne Volk des Kantons Tessin,

nimmt die folgende theilweise Revision der Verfassung an:

Art. 1. Der Große Rath wird im Verhältniß der faktischen Bevölkerung der gegenwärtigen Kreise, nach den Ergebnissen der eidgenössischen Volkszählungen gewählt und zwar je ein Abgeordneter auf 1000 Einwohner.

Jeder Bruchtheil über 500 wird für 1000 berechnet.

§. Die Einwohner des unausgeschiedenen Gebietes delle Terricciuole (amtl. Anmerkung: ein im Tieflande am Flusse Tessin liegender Landstrich, welcher zu einzelnen Gemeinden der Kreise Locarno und Navegna gehört, aber unter dieselben nicht ausgeschieden ist, und meistens von Bürgern des Kreises Verzasca bewohnt wird), welche ihren Aufenthalt regelmäßig zwischen diesem Gebiete und dem Kreise Verzasca wechseln, werden so lange zu diesem leztern Kreise gezählt, bis das unausgeschiedene Gebiet getheilt sein wird.

Übergangsbestimmungen.

Art. 2. Die Volksabstimmung über die vorliegende Revision findet am 3. Dezember nächsthin in den Gemeindeversammlungen statt. Die Abstimmung erfolgt mittels geheimer Stimmabgabe gemäß den bestehenden Vorschriften betreffend die Volksabstimmungen über die Annahme, oder Verwerfung von Entwürfen der Bundesverfassung oder von Bundesgesezen.

Art. 3. Innerhalb fünf Tagen nach der Volksabstimmung macht der Staatsrath in öffentlicher Sizung das Ergebniß derselben bekannt, und wenn die Revision von der absoluten Mehrheit der Bürger, welche an der Abstimmung Theil genommen haben, angenommen worden ist, so wird er unverzüglich die eidgenössische Gewährleistung dafür nachsuchen. Im Falle das Resultat der Abstimmung aus einzelnen Gemeinden noch nicht vorläge, dasselbe jedoch auf das Gesammtergebniß keinen Einfluß haben könnte, so wird der Staatsrath dennoch darüber sich aussprechen, ob die Revision angenommen sei oder nicht.

Art. 4. Sobald die vorliegende Revision, sowie der Art. 1 der unterm 19. Dezember 1875 vom Volke angenommenen Revision vom 20. November 1875, wodurch die geheime und gemeindeweise Abstimmung eingeführt worden ist, die Genehmigung des Bundes erhalten haben, wird der Staatsrath die Wahlversammlungen einberufen zur Vornahme der Integral-Erneuerung des Großen Raths, nach den hier unten folgenden Bestimmungen.

Der gegenwärtige Große Rath tritt außer Amtes, sobald der neue sich konstituiert haben wird. Der leztere bleibt vier Jahre im Amte.

§. In keinem Falle indeß darf die Gesammt-Erneuerung des Großen Rathes später als im nächsten Monat Januar, und jedenfalls nicht früher vorgenommen werden, als nachdem die Bundesversammlung über den Art. 1 der Revision vom 20. November entschieden haben.

Art. 5. Die Stimmregister sollen wenigstens zehn Tage lang öffentlich angeschlagen sein. Beschwerden gegen Beschlüsse der Gemeinderäthe über Eintragungen in diese Register oder über Streichungen aus denselben werden vom Friedensrichter entschieden, unter Vorbehalt des Rekurses an den Großen Rath.

Art. 6. Die Wahlen der Abgeordneten in den Großen Rath erfolgen durch die Aktivbürger eines jeden Kreises, welche zu diesem Zweke in ihren betreffenden Gemeinden sich versammeln. Sie finden in geheimer Stimmgabe mittels Stimmzetteln statt nach den Vorschriften der Geseze vom 19. September 1872 und vom 12. September 1873 über die eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen, soweit diese Vorschriften nicht durch die gegenwärtigen Übergangsbestimmungen aufgehoben werden.

Art. 7. Im Falle einzelne Wahlversammlungen wegen Tumultes oder wegen Ruhestörungen aufgehoben oder neuerdings abgehalten werden müßten, sollen die Stimmkarten, welche bereits in die Urne gelegt worden waren, nicht in Berechnung fallen. Die Verhandlungen sollen vielmehr am folgenden Tage, in der vom Geseze bestimmten Zeit und Form, wieder neu begonnen werden.

§ 1. Wenn wieder Tumulte und Ruhestörungen vorkommen sollten, so hat das Bureau unverzüglich dem Friedensrichter des Kreises hievon Mittheilung zu machen, worauf die Verhandlungen, wie oben bestimmt, in Anwesenheit des Friedensrichters am zweitfolgenden Tage neu vorzunehmen sind. Wenn die Verhandlungen in mehreren Gemeinden erneuert werden müßten, so wohnen auch der Stellvertreter des Friedensrichters und der Sekretär-Beisizer den betreffenden Versammlungen bei.

§ 2. Falls die Versammlung auch das dritte Mal zu keinem Ergebniß gelangen sollte, so werden dennoch auf Grund der Abstimmungen in den andern Gemeinden die Gewählten bekannt gemacht. In diesem Falle haben jedoch das Bureau und der assistirende Friedensrichter dem Großen Rathe Bericht zu machen, welcher sofort auf dem ihm gut scheinenden Wege die Wiederholung der Wahlverhandlungen überall da anordnet, wo das Resultat derselben auf das Gesammtergebniß des Kreises von Einfluss sein könnte.

Art. 8. Es sollen drei Protokolle über die Wahlverhandlungen und zwei Verzeichnisse der Stimmenden aufgenommen werden, zu welchem Zweke der Präsident einen Bürger bezeichnet, um dem Gemeindeschreiber auszuheilen. Nach Schluß der Abstimmung und nach Ausscheidung der Stimmzettel macht der Präsident das Ergebniss bekannt. Die Stimmzettel werden in ein Paket geschlossen und versiegelt und nebst zwei Exemplaren des Protokolles und einem Exemplar des Verzeichnisses der Bürger , welche gestimmt haben, am folgenden Tage um 11 Uhr Vormittags von dem Gemeindepräsidenten, oder wer in dessen Namen handelt, in dem gewöhnlichen Audienzlokal des Friedensrichteramtes dem Friedensrichter oder in dessen Abwesenheit seinem Stellvertreter übergeben.

Art. 9. Das Bureau des Kreises, bestehend aus den Präsidenten der Gemeinden, unter dem Vorsiz des Friedensrichters oder eines Stellvertreters desselben, wird sofort nach Empfang der Protokolle und der Stimmlisten in dem gewöhnlichen Audienzlokale in öffentlicher Sizung zur Festsezung des Gesammtergebnisses schreiten und dasselbe, sowie die Namen der Gewählten, bekannt, machen. Der Präsident stellt hierauf den Gewählten unverzüglich Ernennungsakte aus. Das Protokoll über die Verkündung des Wahlergebnisses ist doppelt auszufertigen. Ein Exemplar desselben nebst einem Exemplar der Protokolle über die Abstimmung mit den aus den einzelnen Gemeinden eingegangenen Beilagen, sowie die verschlossenen und versiegelten Stammkarten, müssen sofort nach den Gemeinden geordnet dem Staatsrathe eingesendet werden, welcher sie dem Großen Rathe vorzulegen hat. Sowohl das Protokoll als auch die Ernennungsakte sollen von allen Mitgliedern, aus welchen das Bureau besteht, unterzeichnet werden. Wenn eines derselben sich entfernt haben sollte oder sich weigern würde, zu unterzeichnen, so soll hievon im Protokoll Vormerk genommen werden.

§ 1. Im Falle das Abstimmungsergebniß nicht aus allen Gemeinden, aus welchen der Kreis besteht, vorliegt, so wird das Ergebniß derjenigen Gemeinden, deren Abstimmungen bekannt sind, festgestellt, die Verkündung des Gesammtergebnisses und der Gewählten aber auf den dritten Tag verschoben und gegebenen Falles an diesem Tage im Sinne von § 2 des Art. 7 vorgenommen. Wenn die Gemeindepräsidenten nicht gegenwärtig sind, so genügt die Anwesenheit des Friedensrichters mit seinem Beisizer und Stellvertreter nebst demjenigen Bürger, welcher als Gehülfe des Sekretärs bestellt worden war.

§ 2. Anstände betreffend die Ausscheidung der Stimmzettel in den Gemeinden werden von den Bureaux der Kreise entschieden , unter Vorbehalt des Rekurses an den Großen Rath. Wenn im dritten Wahlgange Stimmengleichheit bestehen sollte, so entscheidet der Präsident.

Art. 10. Die Beschwerden an den Großen Rath gegen die Gültigkeit der Verhandlungen müssen, unter Verlust des Beschwerderechtes, innerhalb 48 Stunden nach Verkündung des Gesammtergebnisses der Wahl und der Gewählten dem Friedensrichter eingegeben werden, und zwar in so vielen Exemplaren, als besonders interessirte Parteien vorhanden sind, nebst einem Exemplar zum Bericht. Der Friedensrichter läßt sie sofort zustellen. Innerhalb 48 Stunden vom Datum dieser Mittheilung an ist unter Präclusion die Antwort einzugeben. Die betreffenden Akten werden sodann unverzüglich dem Staatsrathe eingesendet, welcher sie dem Großen Rathe vorlegt.

Art. 11. Die Mitglieder der Gemeinderäthe und der Friedensrichterämter, welche ihren Pflichten nicht nachkommen, können mit einer Geldbuße von 100 bis 500 Fr. bestraft werden. Im Falle des Betruges bleibt überdies die Strafklage vorbehalten.

§ . Jeder Bürger ist berechtigt, von den Bureaux in den Gemeinden oder von den Gemeinderäthen eine schriftliche Bescheinigung über das Wahlergebniß, wie es verkündet wurde, zu verlangen.

Art. 12. Am zweiten Montage nach den Wahlen versammelt sich der Große Rath von Rechts wegen, um sich zu konstituiren, und schreitet zur Verifikation der Ernennungsacte der Gewählten.

Art. 13. Die Kreise wählen die ihnen zukommenden Abgeordneten auf Grundlage der faktischen Bevölkerung der eidgenössischen Volkszählung von 1870, unter Berüksichtigung der von dem Staatsrathe bereits aufgestellten Vertheilung der auf dem unausgeschiedenen Gebiete delle Terricciuole wohnhaften Bürger aus dem Verzasca-Thale, gemäß der folgenden Liste der Abgeordneten nach der faktischen Bevölkerung, nämlich von 119,619 Einwohnern. ( Ein Abgeordneter auf je 1000 Einwohner, der Bruchtheil über 500 als voll gerechnet.)

 

No.

Kreis

Einwohner

Abgeordnete

1.

Mendrisio

3728  .

.

2.

Balerna

4350  43504350  .

4  .

3.

Cannegio

2845  .

3  .

4.

Stabio

3685  .

4  .

5.

Riva S. Vitale

3529  .

4  .

 

Mendrisio

18137  .

19  .

 

No.

Kreis

Einwohner

Abgeordnete

6.

Lugano

6024  .

.

7.

Ceresio

2351  .

2  .

8.

Carona

2823  .

3  .

9.

Magliasina

2655  .

3  .

10.

Agno

3380  .

3  .

11.

Sessa

3060  .

3  .

12.

Sonvico

3059  .

3  .

13.

Vezia

3207  .

3  .

14.

Breno

2141  .

2  .

15.

Pregassona

2733  .

3  .

16.

Tesserete

3493  .

3  .

17.

Taverne

2694  .

3  .

 

Lugano

37620  .

37  .

 

No.

Kreis

Einwohner

Abgeordnete

18.

Locarno

3922  .

.

19.

Isole

3273  .

3  .

20.

Onsernone

3431  .

3  .

21.

Gambarogno

3553  .

4  .

22.

Melezza

2732  .

3  .

23.

Navegna

3524  .

3  .

24.

Verzasca

2394  .

3  .

 

Locarno

22829  .

22  .

 

No.

Kreis

Einwohner

Abgeordnete

25.

Rovana

2601  .

.

26.

Maggia

2883  .

3  .

27.

Lavizzara

1169  .

1  .

 

Vallemaggia

6653  .

7  .

 

No.

Kreis

Einwohner

Abgeordnete

28.

Bellinzona

4848  .

.

29.

Ticino

2863  .

3  .

30.

Giubiasco

5063  .

5  .

 

Bellinzona

12774  .

13  .

 

No.

Kreis

Einwohner

Abgeordnete

31.

Riviera

4405  .

.

 

Riviera

4405  .

4  .

 

No.

Kreis

Einwohner

Abgeordnete

32.

Malvaglia

3292  .

.

33.

Castro

1871  .

2  .

34.

Olivone

2009  .

2  .

 

Blenio

7172  .

7  .

 

No.

Kreis

Einwohner

Abgeordnete

35.

Giornico

2657  .

.

36.

Faido

3258  .

3  .

37.

Quinto

2093  .

2  .

38.

Airolo

2021  .

2  .

 

Leventina

10029  .

10  .

Bezirke
 

No.

Kreis

Einwohner

Abgeordnete

1.

Mendrisio

18137  .

19  .

2.

Lugano

37620  .

37  .

3.

Locarno

22829  .

22  .

4.

Vallemaggia

6653  .

7  .

5.

Bellinzona

12774  .

13  .

6.

Riviera

4405  .

4  .

7.

Blenio

7172  .

7  .

8.

Leventina

10029  .

10  .

 

Total des Kantons

119619  .

119  .

Art. 14. Die bestehenden Vorschriften der Verfassung und der Geseze, welche mit der gegenwärtigen Revision im Widerspruche stehen, sind aufgehoben.

    Locarno, den 24. November 1876.

Für den Großen Rath:
Der Präsident:
Avv. F. Bonzanigo.

Die Sekretäre:
S. Gatti.
Avv. B. Antognini.
Erennio Spinelli.

 


Quellen: Schweizerisches Bundesblatt 1876, S. 814
© 21. Juni 2005 - 2. Juli 2005
Home             Zurück          Top