Verfassungsrevision der Republik und des Kantons Tessin

vom 1 bis 4. März 1855

geändert durch
Gesetz vom 21. November 1861,
Verfassungsgesetz vom 20. November 1875,
Dekret vom 10. Februar 1878,
Verfassungsdekret vom 10. Februar 1883.

aufgehoben durch
Verfassungsgesetz vom 2. Juli 1892

 

Der Große Rath
des Freistaats und Kantons Tessin,

auf den Antrag des Staatsraths, schlägt dem Volke folgende Revision der Verfassung vom 4. Juli 1830 vor

I.

1) Der Staatsrath besteht aus sieben Mitgliedern, wovon eines als Staatssekretär funktionirt.

§ 1. Der Präsident des Staatsraths wird von dieser Behörde selbst aus ihren eigenen Mitgliedern gewählt und steht sechs Monate im Amte. Unmittelbar auf eine zweimalige Wahl nach einander, ist derselbe nicht wieder wählbar.

§ 2. Zu jeder Berathung des Staatsraths ist die Anwesenheit von mindestens vier, - zur Wiederberufung, Abänderung oder Suspension eines Beschlusses hinwider die Zustimmung von wenigstens fünf Mitgliedern erforderlich.

Durch das Verfassungsgesetz vom 20. November 1875 wurde der Art. 1 außer dem § 1 aufgehoben und durch die Art. 4 und 5 des Verfassungsgesetzes ersetzt.

II.

2) Der Große Rath hält je zwei ordentliche Sessionen; die erste beginnt am ersten Montag des Monats Mai, die zweite mit dem dritten Montag im November. Sie werden erst nach dem Großen Rath sämmtliche vorgelegten Gegenstände durchberathen hat, geschlossen.

§. Die Großrathsmitglieder erhalten während der Dauer der Sessionen eine tägliche Entschädigung von nicht über fünf Franken. Davon ausgeschlossen sind die von den Sitzungen Ausbleibenden, mit Ausnahme der Erkrankten, die im Hauptorte anwesend sind.

3) Es können Gesetze und gesetzgeberische Erlasse auch direkte vom Großen Rathe ausgehen, in welchem Falle sie jedoch nur dann in Kraft treten, wenn sie in einer ordentlichen Sitzung durchberathen und in einer spätern ordentlichen Sitzung bestätigt worden sind. Unter der nämlichen Bedingung steht dem Großen Rathe auch das Recht der definitiven Abänderung der vom Staatsrath ihm vorgelegten Gesetzesvorschläge zu.

Durch Gesetz vom 21. November 1861 wurden im Artikel II. die Worte "die erste beginnt am ersten Montag des Monats Mai" ersetzt durch: "die erste, am dritten Montag des Monats April und wenn dieser auf einen Festtag fällt, am ersten darauf folgenden Arbeitstag".

III.

4) Es besteht ein Obergericht von neun Mitgliedern; dasselbe kann je für Civil- und Strafsachen in Abtheilungen geschieden werden.

Durch das Verfassungsdekret über die teilweise Revision der Kantonsverfassung vom 10. Februar 1883 wurde der Art. 4 aufgehoben und durch den Art. 1 des Verfassungsdekrets ersetzt; danach hieß das oberste Kantonsgericht wieder Appellationsgericht (wie vor 1855).

5) Für jeden Bezirk ist ein Bezirksgericht von fünf Mitgliedern bestimmt; dasselbe wird bestellt auf Grund der Listen der von den Kreisen erwählten Kandidaten, von welch letztern jedem Kreis fünf zutreffen, mit Vorbehalt der dreifachen Anzahl für den Bezirk Riviera.

§. Die Bezirke Lugano und Locarno haben je zwei Gerichte, das eine für Civil-, das andere für Strafsachen.

Durch das Dekret betreffend den ständigen Hauptort und andere Abänderungen der Verfassung vom 10. Februar 1878 wurde der Art. 5 durch den Einzigen Artikel § 2 letzter Satz des Dekrets dahingehend geändert, dass das Bezirksgericht Bellinzona aufgehoben und das Bezirksgericht Riviera umbenannt wurde in: "Bezirksgericht Riviera und Bellinzona".

siehe hierzu auch den Art. 11 des Verfassungsdekrets vom 20. November 1875.

Durch das Verfassungsdekret vom 10. Februar 1883 wurde der Art. 5 aufgehoben und durch den Art. 2 des Verfassungsdekrets ersetzt.

6) Für die Urtheile über den Tatbestand bei schwerern Verbrechen wird das Schwurgericht eingeführt.

Durch das Verfassungsdekret über die teilweise Revision der Kantonsverfassung vom 10. Februar 1883 wurde der Art. 6 durch den Art. 12 Abs. 1 des Verfassungsdekrets aufgehoben und durch den Art. 1 § 4 des Verfassungsdekrets ersetzt

IV.

7) Wer einen geistlichen Beruf ausübt, d. h. weltliche wie Klostergeistliche, sind vom Wahlrecht, sowie von der Wählbarkeit zu verfassungsmäßigen Ämtern ausgeschlossen.

V.

8) Zur Ausübung des Aktivbürgerrechts ist das zurückgelegte zwanzigste Altersjahr erforderlich.

9) Die Wählbarkeit zum Mitglied des Großen Raths, der Bezirksgerichte, der Friedensgerichte und der Gemeinderäthe tritt mit dem erfüllten 25sten, diejenige zum Mitglied des Staatsraths und des Obergerichts hinwieder mit dem zurückgelegten 30sten Altersjahr ein.

Durch das Verfassungsdekret über die teilweise Revision der Kantonsverfassung vom 10. Februar 1883 wurde der Art. 9 aufgehoben und durch den Art. 5 des Verfassungsdekrets ersetzt.

VI.

10) Die den obigen entgegenstehenden Bestimmungen der Verfassung vom 4. Juli 1830 sind aufgehoben, nämlich:
    der Art. 5;
    lit. b von Art. 16;
    die Art. 21 und 22;
    das erste Dispositiv des Art. 23;
    die §§ 10, 13, 14 und 15 des nämlichen Art. 23;
    der 2. und 3. Satz des Art. 24;
    der § 6 des nämlichen Art. 24;
    im § 7 desselben die Worte Staatssekretär und Mitglieder und Gerichtsschreiber der erstinstanzlichen Gerichte; der Ausdruck Appellationsgericht, statt dessen es heißen soll Obergericht;
    die Worte Gerichte erster Instanz im § 10 des Art. 24;
    in den §§ 2 und 4 des Art. 45 die Worte Gerichte erster Instanz, statt deren es heißen soll Bezirksgerichte;
    der Art. 25;
    die Worte dreißig Jahre zurückgelegt in den Art. 27 und 28, wofür es heißen soll 25 Jahre;
    der Art. 29;
    der Ausdruck Appellationsgericht in den Art. 30 und 45, der ersetzt wird durch die Bezeichnung Obergericht;
    die Worte aus den Aktivbürgern des Kreises selbst im Art. 32;
    und der Art. 47.

Ebenso sind diejenigen Bestimmungen der Verfassung vom 4. Juli 1830 aufgehoben, welche mit der Bundesverfassung nicht im Einklang stehen.

Übergangsartikel.

Sobald dieser Vorschlag vom Volke angenommen sein wird, sind die Urversammlungen behufs der Wahlen der Großrathsmitglieder und der Kandidaten für die Bezirks- und Friedensgerichte einzuberufen und hat der Große Rath zur Neuwahl des Staatsraths und der Gerichte, sowie zur Erlassung der Gesetze, welche behufs der Vollziehung der Bestimmungen der gegenwärtigen revidirten Verfassung nöthig erscheinen, zu schreiten.

    Bellinzona, den 1. März 1855

Für den Großen Rath:
Der Präsident:
Avv. Angelo Soldini.

Der Sekretär:
Dr. B. Zaccheo.

 

Der Kanton Tessin hatte bis 1967 eine besonders undurchsichtige Verfassung. Der Verfassungstext wurde faktisch nicht verändert (nur Aufhebungen fanden statt. Stattdessen wurden durch Verfassungsgesetze fast alle Bestimmungen der ursprünglichen Verfassung aufgehoben und durch die nachfolgenden Verfassungsgesetze ersetzt. Erst 1967 kam es zu der, über Jahrzehnte hinweg immer wieder in Angriff genommene, aber nie verwirklichte Zusammenfassung des Verfassungstextes in einer Urkunde. Vorstehende Verfassungsrevision ist die erste Verfassungsänderung im Tessin nach 1830.
 


Quellen: Heimann, Die Bundesverfassung der schweiz. Eidgenossenschaft und die Staatsverfassungen der Kantone, Nidau 1864
© 21. Juni 2005 - 25. Juni 2005
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