Dreizehntes Capitel der "Mediationsverfassung"

Verfassung des Cantons Tessin

vom 19. Februar 1803

aufgehoben durch
Übereinkunft vom 29. Dezember 1813

Erster Titel
Gebietseintheilung und politischer Stand der Bürger.

1. Der Canton Tessin umfaßt außer dem in seinen gegenwärtigen Gränzen eingeschlossenen Gebiete auch das Thal Levantina.

2. Er wird in acht Bezirke getheilt, nämlich: Mendrisio, Lugano, Locarno, Valle Maggia, Bellinzona, Riviera, Blenio und Levantina. Bellinzona ist Hauptort des Cantons.

3. Um Bürgerrecht in einer Gemeinde- oder Kreisversammlung auszuüben, muß man
1) seit einem Jahre in einem Kreise oder einer Gemeinde wohnhaft gewesen;
2) 20 Jahr alt und verheierathet seyn oder gewesen seyn, oder 30 Jahre zählen, wenn man nicht verheirathet gewesen ist;
3) Eigenthümer oder Nutznießer eines Grundvermögens von 200 Schweizerfranken oder einer auf Grundstücken versicherten Schuld von 300 Franken seyn;
4) in den Kreisen, wo es Bürgerschaften giebt, wenn man vorher nicht Bügrer einer der Cantonsgemeinden war, an die Armencasse seines Wohnortes eine jährliche Summe zahlen, welche durch das Gesetz nach dem Werthe des Gemeindeeigenthums bestimmt ist, und deren Minimum sechs Franken, das Maximum 60 Franken beträgt. Jedoch ist es bei der ersten Ernennung hinreichend, 3 Procent des Preises des letzten Contracts über Erwerbung des Bürgerrechtes zu zahlen.

Ausgenommen von dieser vierten Bedingung sind die Geistlichen, und in der Schweiz, oder in den vormals der Schweiz unterworfenen Gegenden gebornen Familienväter, welche Väter von vier Kindern sind, die in die Soldatenliste eingetragen sind, und ein Gewerbe oder eine Wirthschaft haben.

4. Mittelst der jährlich an die Armencasse entrichteten Summe, oder des Capitals dieser Summe, wird man Miteigenthümer der zum Bürgerrechte gehörenden Vortheile, und hat Anspruch auf die den Bürgern der Gemeinde zugesicherten Unterstützungen..

Fremde oder Schweizerbürger eines andern Cantons, welche nachdem sie die Zeit der Ansässigkeit und die übrigen durch das Gesetz bestimmten Bedingungen erfüllt haben, Bürger des Cantons Tession werden wollen, können gehalten werden, das Capital zu 20 Procent der jährlichen Summe, auf welche das Eigenthum des Bürgerrechts ihres Wohnsitzes geschätzt worden ist, zu zahlen. Dies muß durch eine besondere Acte der Gemeinde bestimmt werden.

Zweiter Titel
Öffentliche Gewalten.

5. In jeder Gemeinde ist ein Gemeinderath, der aus einem Syndicus, zwei Adjuncten und wenigstens acht, höchstens 16 Mitgliedern besteht. Die Gemeindebeamten bleiben sechs Jahre im Amte; sie werden jedesmal zum Drittheil erneuert und sind wieder wählbar.

Das Gesetz bestimmt die Verrichtungen der Gemeinderäthe, betreffend
1) die Localpolizei;
2) die Vertheilung und Beiziehung der Auflagen;
3) der besondern Verwaltung des Gemeinde- und Armenguts, sowie der untergeordneten Gegenstände der allgemeinen Verwaltung, mit denen sie beauftragt werden können.

Es bestimmt ferner die besondern Verrichtungen des Syndicus, der Adjuncten und der Gemeinderathsmitglieder.

6. In jedem Kreise ist ein Friedensrichter, dessen Aufsicht und Leitung die Gemeindeverwaltungen des Kreises unterworfen sind.

Er führt bei den Kreisversammlungen den Vorsitz und hat die Polizei derselben.

Er schlichtet die Streithändel zwischen den Bürgern; er ist der gerichtliche Polizeibeamte, der im Fall eines Verbrechens die vorläufige Untersuchung anzustellen hat, und erledigt mit Zuzug von Beisitzern Civilstreitigkeiten von geringem Werthe. Die nähere Bestimmung jeder dieser seiner Verrichtungen bleibt dem Gesetz überlassen.

7. Ein großer Rath von 110 Mitgliedern, die auf fünf Jahre, oder in den durch den Artikel 15 bestimmten Fällen, auf Lebenszeit ernannt sind, übt die höchste Gewalt aus. Er versammelt sich alljährlich auf den ersten Montag des Maimonats in Bellinzona und kann ordentlicher Weise seine Sitzungen nicht über einen Monat ausdehnen, es sei denn, daß der kleine Rath die Dauer derselben verlängere.

Der große Rath
1. entscheidet über die Annahme oder Verwerfung der Gesetzesvorschläge, die ihm vom kleinen Rathe vorgelegt werden;
2. er läßt sich über die Vollziehung der Gesetze, Verordnungen und Reglemente Rechenschaft ablegen;
3. er nimmt dem kleinen Rathe über die Verwaltung der öffentlichen Gelder Rechnung ab;
4. er bestimmt die Besoldung der öffentlichen Beamten;
5. er bewilligt die Veräußerung von Cantonalgütern;
6. er berathschlagt über die Begehren der Zusammenberufung außerordentlicher Tagsatzungen, ernennt die Abgeordneten des Cantons zu den Tagsatzungen, und ertheilt ihnen die Instructionen;
7. er stimmt im Namen des Cantons.

8. Ein kleiner Rath, bestehend aus neun Mitgliedern des großen Raths, von dem sie fortwährend einen Theil ausmachen, und die immer wieder wählbar sind, hat den Vorschlag der Gesetze und Steuerverordnungen.

Ihm liegt die Vollziehung der Gesetze und Verordnungen ob, zu welchem Ende er die nöthigen Beschlüsse faßt. Er hat die Leitung und Aufsicht über die untergeordneten Behörden, und ernennt seine Agenten.

Er legt dem großen Rathe über alle Theile der öffentlichen Verwaltung Rechenschaft ab und zieht sich aus der Versammlung zurück, wenn über seine Amtsführung und Rechnungsablage berathschlagt wird.

Er verfügt über die bewaffnete Macht zur Handhabung der öffentlichen Ordnung.

Er kann die ordentlichen Sitzungen des großen Raths verlängern und außerordentliche veranstalten.

9. Für die bürgerliche und peinliche Rechtspflege gibt es Gerichte erster Instanz, deren Mitglieder durch die Parteien entschädigt werden.

Das Gesetz wird die Zahl dieser Gerichte, ihre Einrichtung und Competenz bestimmen.

10. Ein Appellationsgericht von 13 Mitgliedern spricht in letzter Instanz ab.

Um in peinlichen Fällen Urtheile auszufällen, müssen wenigstens neun Mitglieder anwesend, und bei Verbrechen, die die Todesstrafe nach sich ziehen, muß das Gericht vollzählig sein. Es beruft nöthigenfalls Rechtsgelehrte in seine Mitte.

Das Gesetz bestimmt die Proceßform und die Amtsdauer der richterlichen Stellen.

11. Über streitige Administrationsfälle wird von einem Gerichte entschieden, das aus einem Mitgliede des kleinen Raths und vier Mitgliedern des Appellationsgerichts besteht.

Dritter Titel.
Art und Weise der Wahlen und Bedingungen der Wählbarkeit.

12. Die Gemeindevorgesetzten werden von den Gemeindeversammlungen ernannt aus den Bürgern, die 30 Jahr als sind und eine Liegenschaft von 500 Franken im Werthe, oder einen auf eine Liegenschaft unterpfändlich versicherten Schuldtitel vom nämlichen Werthe eigenthümlich oder nutznießungsweise besitzen.

13. Die Friedensrichter werden von dem kleinen Rathe aus denjenigen Bürgern erwählt, die ein Grundeigenthum von 1000 Franken, oder einen Schuldtitel mit Unterpfand vom nämlichen Werthe besitzen.

14. Die Stellen im großen Rathe werden theils durch die unmittelbare Wahl, theils durch Wahl und Loos zugleich auf folgende Weise besetzt:

Die im Umfange eines Kreises wohnhaften Bürger bilden eine Versammlung, die nicht anders statthaben kann, als zufolge einer 14 Tage zum voraus von dem Friedensrichter anbefohlenen und sieben Tage zum voraus von dem Gemeinderath jedes Orts bekannt gemachten Zusammenberufung.

Jede Kreisversammlung hat drei Ernennungen zu machen:
1) Sie ernennt aus dem Bezirke, zu dem der Kreis gehört, einen Abgeordneten in den großen Rath ohne Anwendung des Looses. Das Alter von 30 Jahren ist das einzige Wählbarkeitsbeding für diese erste Ernennung. Der Friedensrichter, der bei der Versammlung den Vorsitz führt, kann in seinem Kreise nicht gewählt werden.
2) Sie ernennt drei Candidaten außerhalb dem Kreise, unter den Bürgern, die eine Liegenschaft von mehr als 16,000 Schweizerfranken im Werthe oder einen auf eine Liegenschaft unterpfändlich versicherten Schuldtitel vom nämlichen Werthe als Eigenthümer oder Nutznießer besitzen. Für diese zweite Ernennung genügt das Alter von 25 Jahren.
3) Sie ernennt ferner zwei Candidaten außerhalb dem Kreise unter den Bürgern, die das fünfzigste Altersjahr überschritten haben. Für diese letzte Ernennung ist es hinreichend, eine Liegenschaft von 4000 Schweizerfranken, oder einen auf eine Liegenschaft unterpfändlich versicherten Schuldtitel vom nämlichen Werthe als Eigenthümer oder Nuznießer zu besitzen.

Die 190 Candidaten werden durch das Loos auf 72 reducirt, die, verbunden mit den 38 Abgeordneten, welche die Kreisversammlungen unmittelbar ernennen, die 110 Mitglieder des großen Raths ausmachen.

15. Die Mitglieder des großen Raths von der zweiten und dritten Ernennung gehören keinem Kreise besonders an.

Die von der zweiten Ernennung bleiben lebenslänglich an der Stelle, wenn sie im nämlichen Jahre von 15 Kreisen vorgeschlagen worden sind. Die Mitglieder von der dritten Ernennung bleiben ebenfalls lebenslänglich an der Stelle, wenn sie von 30 Kreisen im nämlichen Jahre vorgeschlagen worden sind.

16. Die Mitglieder des großen Raths von der ersten Ernennung können durch ihre Kreise entschädigt werden. Die Verrichtungen der übrigen sind unentgeldlich.

17. Für die Wiederbesetzung der Stellen von der zweiten und dritten Ernennung, die im großen Rathe erledigt werden, wird unter den auf dem letzten Verzeichnisse zurückgebliebenen Candidaten das Loos gezogen. Die Erneuerung dieses Verzeichnisses geschieht jedes fünfte Jahr.

18. Wenn bei der periodischen Erneuerung des großen Raths sich mehr als 34 Mitglieder, die auf Lebenszeit ernannt sind, in demselben befinden, so wird der Oberschuß der Anzahl der 110 Mitglieder beigezählt, so daß bei jeder allgemeinen Wahl wenigstens 38 Bürger, die entweder ein Grundeigenthum von 16000 Schweizerfranken besitzen, oder über 50 Jahre alt sind, in den großen Rath treten.

19. Der Präsident des großen Raths wird für jede Sitzungszeit unter den Mitgliedern des kleinen Raths gewählt, hat aber keine Stimme, wenn über die Rechnungen und die Amtsführung des letztern berathschlagt wird.

So lange sein Vorsitz dauert, kann er den Berathschlagungen des kleinen Raths nicht beiwohnen.

20. Die Mitglieder des kleinen Rathes werden vom großen Rathe für sechs Jahre ernannt; die Erneuerung geschieht immer zum Drittheil. Der erste Ernennungsact bezeichnet diejenigen Mitglieder, welche am Ende des zweiten und dritten Jahres austreten sollen.

Um gewählt werden zu können, wird ein Eigenthum oder eine Nutznießung von 9000 Schweizerfranken in liegenden Gründen oder auf Liegenschaften unterpfändlich versicherten Schuldtiteln erfordert.

Der kleine Rath wählt jeden Monat seinen Präsidenten.

21.Die Mitglieder der Bezirksgerichte werden von dem kleinen Rathe auf einen dreifachen Vorschlag des Appellationsgerichts gewählt. Sie müssen aus der Classe von Bürgern genommen werden, die wenigstens 3000 Schweizerfranken in Liegenschaften oder auf Liegenschaften unterpfändlich versicherten Schuldtiteln eigenthümlich oder nutznießungsweise besizen.

22. Die Mitglieder des Appellationsgerichts werden vom großen Rathe ernannt und müssen, außer dem für den kleinen Rath vorgeschriebenen Eigenthumsbedinge, während fünf Jahren gerichtliche Functionen ausgeübt haben oder Mitglieder der obern Behörden gewesen sein.

Vierter Titel.
Allgemeine Verordnungen und Garantieen.

23. Jeder im Canton Tessin wohnende Schweizer ist Soldat.

24. Die Kreisversammlungen können in keinem Falle weder unter sich noch mit Individuen oder Gemeinheiten außer dem Cantone correspondiren.

25. Die römisch-katholische Religion ist die Confession des Cantons.

Das Recht, Zehnten und Grundzinsen abzukaufen, und zwar zu ihrem wahren Werthe, wird garantirt.

 

Der Kanton Tessin ist, wie St. Gallen auch, ein 1803 neu gebildeter Kanton, der die sogenannten "italienischen Vogteien" vereinigte und gleichberechtigt in die Eidgenossenschaft einfügte.

Der Kanton wurde aus vielen, bis 1798 bestehenden Herrschaften oder Landvogteien gebildet, die alle Unterthanenlande eines oder mehrerer Orte der Eidgenossenschaft standen; das waren die Landvogteien
- Mendrisio (dt. Mendris),
- Lugano (dt. Lauis),
- Locarno (dt. Luggarus),
    alle seit 1512 bzw. 1513 Gemeine Herrschaft der drei Urkantone Unterwalden, Uri und Schwyz;
- Bellinzona (dt. Bellenz), seit 1407, endgültig 1500 Gemeine Herrschaft der drei Urkantone;
- Riviera (dt. Reffier), seit 1403, endgültig 1500 Gemeine Herrschaft der drei Urkantone;
- Maggia (dt. Maiental), seit 1411, endgültig 1513 Gemeine Herrschaft der drei Urkantone;
- Blenio (dt. Bollenz), seit 1500 Gemeine Herrschaft der drei Urkantone;
- Leventina (dt. Livinental), 1403 Gemeine Herrschaft der drei Urkantone, seit 1439 Herrschaft (Untertanenland) des Kontons Uri; um dieses Gebiet gab es 1814/15 nochmals heftige Streitigkeiten zwischen dem Kanton Uri und dem Tessin, der auf dem Wiener Kongress endgültig zugunsten des Tessin ausging.
 


Quellen: Schweizerische Bundeskanzlei
K.H.L. Pölitz, Die europäischen Verfassungen seit dem Jahre 1789, Brockhaus Leipzig 1833

Nabholz/Kläui, Quellenbuch zur Verfassungsgeschichte der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Kantone, Verlag H.R.Sauerländer & Co., Aarau, 1940
© 10. Mai 2005

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