Verfassungsgesetz
über die
Persönliche Freiheit und die Unverletzlichkeit der Wohnung
(Loi Constitutionnelle sur la Liberté Individuelle et sur l'inviolabilité du domicile)

Beschluß des Großen Rathes vom 21. März 1849
bestätigt durch Volksabstimmung am 23. April 1849

geändert durch
Verfassungsgesetz vom 9. März 1927, bestätigt durch Volksabstimmung vom 23. und 24. April 1927;
Verfassungsgesetz vom 1. Februar 1936, bestätigt durch Volksabstimmung vom 4. und 5. April 1936.

aufgehoben durch
Verfassungsgesetz vom 7. Oktober 1958, bestätigt durch die Volksabstimmung vom 6. und 7. Dezember 1958.

es folgt eine Übersetzung (größtenteils) aus dem Jahr 1977 !!!

Der Große Rath der Republik und des Kantons Genf fait savoir que:

Vu l'article 155 de la constitution,

Le Grand Conseil a voté et le Peuple Genevois a décrété la loi constitutionnelle suivante:

Art. 1. Niemand darf seiner Freiheit beraubt werden, außer aufgrund eines vom zuständigen Gericht ausgesprochenen Urteils oder aufgrund eines Befehls, der von einer durch die Verfassung ermächtigten Behörde erlassen worden ist, um die Voruntersuchung in einem Strafverfahren zu sichern.

Wird ein Täter auf frischer Tat ertappt, kann ihn jedermann festnehmen. Die auf diese Art festgenommene Person ist unverzüglich einer zuständigen Behörde zuzuführen.

Art. 2. Eine frisch begangene Tat liegt vor, wenn ein Vergehen eben verübt wird oder eben verübt worden ist.

Als frisch begangene Tat gelten auch die Fälle, in denen der Beschuldigte durch Rufe in der Öffentlichkeit verfolgt wird oder kurze Zeit nach der Tat mit Gegenständen, Waffen, Werkzeugen oder Dokumenten angetroffen wird, die darauf schließen lassen, dass er der Täter oder ein Gehilfe ist.

Art. 3. Durch den Vorführbefehl ordnet eine zuständige Amtsperson oder ein zuständiger Beamter an, die Person, die eines Verbrechens oder eines Vergehens beschuldigt wird, festzunehmen und während 24 Stunden in Haft zu behalten.

Art. 4. Amtspersonen oder Beamte, die Haftbefehle erlassen dürfen, sind:
    Der Instruktionsrichter;
    Der Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements;
    Der Direktor der Zentralpolizei;

Bei Ertappung auf frischer Tat:
    Der Generalprokurator;
    Die Friedensrichter;
    Die Polizeikommissäre;
    Die Gemeindepräsidenten.

In den im Gesetz vorgesehenen besondern Fällen:
    Die Gerichtspräsidenten.

Durch Verfassungsgesetz vom 9. März 1927 erhielt der Art. 4 folgende Fassung:
"Art. 4. Amtspersonen oder Beamte, die Haftbefehle erlassen dürfen, sind:
    Der Generalprokurator;
    Die Instruktionsrichter;
    Der Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements;
    Der Polizeichef und höchstens zwei vom Staatsrat hierfür besonders bezeichnete Polizeioffiziere;
Bei Ertappung auf frischer Tat:
    Die vom Staatsrat hierfür besonders bezeichneten Polizeioffiziere;
    Die Gemeindepräsidenten;
In den im Gesetz vorgesehenen besondern Fällen:
    Die Gerichtspräsidenten, der Präsident der Strafkammer für Jugendliche."

Art. 5. Durch den Haftbefehl ordnet der Untersuchungsrichter an, eine Person, die eines Verbrechens oder Vergehens beschuldigt wird, festzunehmen und während höchstens acht Tagen in Haft zu behalten, oder, wenn sie schon festgenommen ist, während dieser Dauer in Haft zu belassen.

Art. 6. Durch den Haftbelassungsbefehl ordnet die Anklagekammer (chambre d'instruction) an, eine festgenommene Person, die eines Verbrechens oder Vergehens beschuldigt wird, in Haft zu belassen.

Art. 7. Jede Person, die aufgrund eines Befehles festgenommen worden ist, muss innert 24 Stunden durch die Amtsperson einvernommen werden, die den Befehl erlassen hat. Wird sie nicht freigelassen, ist die Person dem Richter zu überweisen.

Der Richter muss in den folgenden 24 Stunden entweder den Haftbefehl erlassen oder die Freilassung der festgenommenen Person verfügen.

Personen, die wegen Bettelei, Landstreicherei oder Verstoß gegen die Fremdenpolizeigesetzgebung festgenommen werden, können auch nicht dem Richter überwiesen, sondern, innerhalb 24 Stunden auf Befehl des Justiz- und Polizeidepartementes freigelassen oder aus dem Kantonsgebiet geleitet werden, wenn sie nicht Kantonsbürger sind.

Art. 8. Die Befehle werden datiert und von der Behörde, die sie erlässt, unterzeichnet.

 Der Beschuldigte ist darin so genau als möglich zu bezeichnen.

Sie enthalten die Angabe des Sachverhalts, der dem Befehl zugrunde liegt.

Der Haftbefehl und der Haftbelassungsbefehl geben überdies an, auf welche Vorschrift sich der Vorwurf des Verbrechens oder Vergehens stützt.

Der festgenommenen Person muss der Befehl vorgewiesen und unmittelbar nach der Überführung in Haft ein Doppel ausgehändigt werden.

Art. 9. Wenn die Strafuntersuchung es erfordert, hat der Untersuchungsrichter das Recht, den Beschuldigten für höchstens acht Tage in strenge Einzelhaft zu versetzen.

Die strenge Einzelhaft kann über die achttägige Dauer hinaus nur mit Bewilligung der Anklagekammer verlängert werden.

Art. 10. Jede Person, die aufgrund eines Befehls festgenommen worden ist, hat das Recht:
1. sich einen Verteidiger zu wählen und sich mit ihm zu besprechen, dies jedoch erst nach der ersten Einvernahme durch die Amtsperson oder den zuständigen Beamten in den ersten 24 Stunden nach der Festnahme; das Recht gilt nicht bei strenger Einzelhaft;
2. in jedem Fall seine vorläufige Haftentlassung zu verlangen, wenn er dafür bürgt, dass er sich allen Verfahrenshandlungen und dem Vollzug des Urteils stellen werde sobald er dazu aufgefordert wird.

Die vorläufige Haftentlassung gegen Sicherheitsleistung wird bei Vergehen immer zugestanden, außer wenn der Beschuldigte schon einmal wegen eines Verbrechens verurteilt worden ist oder in früheren Fällen die Sicherheitsleistung hat verfallen lassen.

Art. 11. Die, Anklagekammer bestimmt die Höhe der Sicherheitsleistung unter Berücksichtigung der Umstände des Verbrechens oder Vergehens und des mutmaßlichen Schadens.

Sie anerkennt als Sicherheitsleistung:
    die Hinterlegung der festgelegten Geldsumme,
    ein Grundpfand auf einem entsprechenden Grundstück oder
    die Solidarbürgschaft von .drei zahlungsfähigen Personen.

Art. 12. Machen sich in einer Sitzung des Generalrates oder des Grossen Rates oder an einem andern Ort, an dem öffentlich eine Wahl, eine Gerichtshandlung oder eine andere Amtshandlung einer Behörde oder einer Amtsperson der Verwaltung oder der Gerichte vorgenommen wird, einer oder mehrere Anwesende einer schweren Missachtung der Würde der Behörde schuldig oder verursachen; sie eine Unordnung oder einen Tumult, so kann der Präsident oder die Amtsperson anordnen, dass die Widerhandelnden festgenommen und bis  zu 24 Stunden in Haft gesetzt werden.

Die Anordnung der Festnahme ist zu datieren und zu unterzeichnen; sie tritt an Stelle des Befehls; sie muss so genau als möglich den oder die Widerhandelnden bezeichnen und den Grund angeben, weshalb sie getroffen worden ist.

Art. 13. Die Wohnung ist unverletzlich. Die Beamten der Verwaltungs- und Gerichtspolizei dürfen zur Ausführung einer Festnahme nur während des Tages in eine Wohnung eindringen. Sie müssen von einer Amtsperson oder einem Beamten begleitet sein, dem dieses Gesetz das Recht zuerkennt, einen Vorführbefehl zu erlassen. Ausgenommen sind die folgenden drei Fälle:
1. die frisch begangene Tat,
2. die Feuersbrunst, Überschwemmung oder wenn es eingeschlossene Personen verlangen, oder letztlich
3. wenn es sich um öffentliche Gebäude oder um eine Wohnung handelt, die bekanntermassen dem Unzuchtgewerbe dient.

Art. 14. Eine Haussuchung und eine Durchsuchung in einer Wohnung dürfen nur zur Sicherung der Strafuntersuchung wegen eines Verbrechens oder Vergehens stattfinden, und der Untersuchungsrichter muss vom Staatsanwalt begleitet sein.

Ist eine dieser Amtspersonen verhindert, so kann sie sich, mitschriftlicher Übertragung der Amtsgewalt, durch einen Friedensrichter, einen Polizeikommissär oder einen Gemeindepräsidenten vertreten lassen.

Die Haussuchung und die Durchsuchung einer Wohnung müssen am Tage durchgeführt werden.

Liegt eine der drei Ausnahmen dieses Artikels oder ein Antrag des Wohnungsinhabers vor, kann jede Amtsperson und jeder Beamter, der einen Vorführbefehl erlassen kann, allein und auch nachts vorgehen.

Durch Verfassungsgesetz vom 9. März 1927 erhielt der Art. 14 Abs. 2 folgende Fassung:
"Bei Verhinderung können sich der Instruktionsrichter und der Generalprokurator, mit schriftlicher Übertragung der Amtsgewalt, durch den Polizeichef, einen Polizeioffizier oder einen Gemeindepräsidenten vertreten lassen."

Art. 15. Die Haussuchungen und Durchsuchungen müssen in Gegenwart des Wohnungsinhabers oder seines Vertreters durchgeführt werden. Sind sie abwesend oder weigern sie sich, die Amtsperson zu begleiten oder einen Vertreter zu bezeichnen, wird von ihrer Gegenwart abgesehen.

Art. 16. Jede rechtswidrige Festnahme und jede rechtswidrige Verlängerung der Haft geben Anspruch auf Schadenersatz durch den für die Freiheitsentziehung Verantwortlichen. Die Höhe des Schadenersatzes richtet sich nach den Umständen und dem erlittenen Nachteil, beträgt aber keinesfalls, weniger als 25 Franken je Tag rechtswidriger Haft und je rechtswidrig festgehaltene Person.

Art. 17. Jede Verletzung der Wohnung gibt Anspruch auf Schadenersatz durch den für die Verletzung Verantwortlichen. Die Höhe des Schadenersatzes richtet sich nach den Umständen und dem erlittenen Nachteil, beträgt aber keinesfalls weniger als 25 Franken je Stunde Verletzungsdauer und je verletzte Wohnung.

Art. 18. Der Schadenersatz nach den beiden vorstehenden Artikeln kann durch strafrechtliche Verfolgung oder auf dem zivilen Weg verlangt werden.

Art. 19. Auf dem Wege der ordentlichen Gesetzgebung sind zu regeln:
1. Aux arrestations et emprisonnements militaires.
2. die administrativen Massnahmen bezüglich der Geisteskranken,
3. die Haft der Minderjährigen auf Begehren des Vaters, der Mutter oder des Vormundes.
4. Aux femmes publiquement livrées ä la prostitution.
5. die Ausweisung,
6. die Besichtigung von Räumen für die öffentliche Gesundheit und Gesundheitspflege,
7. die Besichtigung von Räumen in Bauten, die für die Öffentlichkeit gefährlich oder schädlich sind.

Durch Verfassungsgesetz vom 1. Februar 1936 erhielt der Art. 19 Ziffer 3 folgende Fassung:
"3. die Haft der Minderjährigen, die den Bestimmungen des Gesetzes über die Jugendstrafkammer unterstehen."

Art. 20. Der Schuldverhaft ist abgeschafft.

Certifié conforme aux registres im Großen Rat am 21. März ein tausend acht hundert und neunundvierzig.

Der zweite Vicepräsident des Großen Rathes.
Alméras.

Der Vice-Secretär.
A. Tourte.

 


Quellen: Bundeskanzlei, Bundesverfassung und Staatsverfassungen der Kantone, Bern 1891, 1910, 1937, 1948
Schweizerisches Bundesblatt

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