Verfassungsgesetz
betreffend
die Abschaffung des Kultusbudgets

Beschluß des Großen Rates vom 15. Juni 1907,
bestätigt durch Volksabstimmung vom 29. und 30. Juni 1907.

aufgehoben durch
Verfassungsgesetz vom 7. Oktober 1958, bestätigt durch Volksabstimmung vom 6. und 7. Dezember 1958.

Der Staatsrat der Republik und des Kantons Genf beurkundet folgendes:

Der Große Rat,

auf den Antrag des Staatrates,

beschließt als Vorlage zur Volksabstimmung was folgt:

Art. 1. Die Kultusfreiheit ist gewährleistet.

Der Staat und die Gemeinden unterhalten oder unterstützen keinen Kultus.

Niemand kann verhalten werden, durch eine Steuer an die Kosten eines Kultus beizutragen.

Art. 2. Die Kulte können ausgeübt werden und die Kirchen können sich organisieren kraft der Vereins- und Versammlungsfreiheit. Ihre Anhänger haben sich den allgemeinen Gesetzen, sowie den Polizeireglementen über die öffentlichen Kultushandlungen zu fügen.

Die Kirchen können, gemäss den Vorschriften des schweizerischen Obligationenrechtes, die juristische Persönlichkeit mit allen ihren rechtlichen Folgen erwerben. Sie können sich mit Einwilligung des Grossen Rates als Stiftungen organisieren.

Art. 3. Die Kirchen und Pfarrhäuser, welche Gemeindeeigentum sind, behalten ihre religiöse Bestimmung. Sie bleiben wie bisher kostenlos dem protestantischen, altkatholischen oder römisch-katholischen Kultus gewidmet, der am Tage des Inkrafttretens dieses Gesetzes, darin ausgeübt wird. Die Mitbenutzung kann nur mit Zustimmung der im Besitz befindlichen Religionsgenossenschaft stattfinden.

Unter Vorbehalt der Genehmigung des Staatsrates können die Gemeinden das Eigentumsrecht an diesen Gebäuden, mit der Verpflichtung zu ihrem Unterhalt, auf die Vertreter derjenigen Kultusgemeinschaft übertragen, die sie besitzt. Diese Übertragung erfolgt kostenlos und frei von Handänderungsgebühren.

Im Fall der Übertragung des Eigentums an den vorgenannten Gebäuden durch die Gemeinden muss vereinbart werden, dass die Gebäude ihre religiöse Bestimmung beibehalten und dass über sie nicht gegen Entgelt verfügt werden könne.

Art. 4. Die Kirche St-Pierre bleibt dem protestantischen Kultus gewidmet. Der Staat wird auch in Zukunft über sie zu nationalen Feierlichkeiten verfügen können, selbst im Fall, dass das Eigentumsrecht an ihr gemäss Art. 3 dieses Gesetzes übertragen werden sollte.

Übergangsbestimmung.

Art. 5. Dieses Gesetz tritt mit dem 1. Januar 1909 in Kraft. Von diesem Tage an werden im Budget alle Kultusausgaben gestrichen.

Vom 1. Januar 1909 an erhalten die dann im Amte stehenden Geistlichen der beiden, vom Staat unterhaltenen, Kulte während zehn Jahren ein Ruhegehalt im Betrag von zwei Dritteln ihrer Besoldung; nach Ablauf der zehn Jahre wird der Ruhegehalt für diejenigen Geistlichen, welche dann über fünfzig Jahre alt sind, auf die Hälfte ihrer Besoldung, für diejenigen Geistlichen, die dieses Alter noch nicht erreicht haben, auf einen Drittel ihrer Besoldung herabgesetzt.

Wird der Empfänger eines solchen Ruhegehalts mit einem öffentlichen Amt betraut, für das eine ständige Besoldung von mindestens gleichem Betrag, wie der Ruhegehalt, vom Staat ausgerichtet wird, so verliert er jeden Anspruch aus dem gegenwärtigen Artikel.

Zusatzbestimmung betreffend den protestantischen Kultus.

Art. 6. Eine Kommission von 11 Mitgliedern, von denen sechs vom Konsistorium und fünf vom Regierungsrat ernannt werden, wird über die Verwaltung und Verwendung der Schuldtitel der Caisse hypothécaire im Betrag von Fr. 800,000 beschliessen, welche dem Konsistorium gemäss dem Verfassungsgesetz vom 18. November 1886 übergeben worden sind, sowie über die Verwaltung und Verwendung aller ändern Güter und Gelder im Besitz oder in der Verwaltung des Konsistoriums oder der Kirchgemeinderäte.

Die Kapitalien behalten in der neuen Organisation der protestantischen Kirche ihre gegenwärtige Bestimmung bei.

Der Regierungsrat wird den Geschäftsgang dieser Kommission regeln.

Die Beschlüsse der Kommission sollen der Genehmigung des Regierungsrates so rechtzeitig unterstellt werden, dass sie am 1. Januar 1909 in Kraft treten können.

Zu Mitgliedern dieser Kommission werden Wähler der protestantischen Nationalkirche ernannt werden.

Zusatzbestimmung betreffend den katholischen Kultus.

Art. 7. Die katholischen Kirchen und Pfarrhäuser von Versoix und Chêne-Bourg werden dem römisch-katholischen Kultus unter denselben Bedingungen gewidmet, die in den Beschlüssen des Regierungsrates vom 31. März 1906 für Versoix und vom 27. Mai 1907 für Chêne-Bourg aufgestellt worden sind.

Für den Fall, dass einer der beiden katholischen Kulte in einer Gemeindekirche nicht mehr regelmässig ausgeübt würde, wird der andere sowohl hinsichtlich des Pfarrhauses als der Kirche der Wohltat des Art. 3 teilhaftig.

Die Güter der Kirchgemeinden erhalten die gleiche Zweckbestimmung wie die Kirchen oder Pfarrhäuser, mit denen sie verbunden sind.

Derogationsklausel.

Art. 8. Es werden und bleiben ausser Kraft gesetzt:
    Art. 138 der Verfassung;
    die Art. 2 und 3 des Verfassungsgesetzes vom 26. August 1868, betreffend die Schaffung eines Hospice général;
    das Verfassungsgesetz vom 19. Februar 1873 über den katholischen Kultus;
    die Verfassungsgesetze vom 25. März 1874, vom 6. Juli 1892 und vom 21. September 1901 über den protestantischen Kult;
    der Titel X der Verfassung (vom Kultus), sowie die Bestimmungen, welche ihn abgeändert haben;
    das Gesetz über den katholischen Kultus vom 27. August 1873, das Gesetz über den protestantischen Kultus vom 3. Oktober 1874 und im allgemeinen alle gesetzlichen und reglementarischen Bestimmungen, die dem gegenwärtigen Gesetz widersprechen.

    Le Conseil d'Etat est chargé de faire publier les présentes dans la forme et le terms prescrits.

    Also geschehen und gegeben zu Genf am 15. Juni eintausendneunhundertundsieben unter dem Siegel der Republik und den Unterschriften des Präsidenten und des Sekretärs des Großen Rates.

Der Präsident des Großen Raths:
E. Ritzchel

Der Sekretär des Großen Raths:
Marc Foudral

    Also angenommen im Generalrat am 29./30. Juni 1907.

Der Staatskanzler

 


Quellen: Bundeskanzlei, Bundesverfassung und Staatsverfassungen der Kantone, Bern 1910, 1937, 1948
Schweizerisches Bundesblatt

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