"Verfassung" des Cantons Bern

Urkundliche Erklärung des großen Raths von Bern

vom 21. September 1815

aufgehoben durch
Verfassung vom 6. Juli 1831

Wir Schultheiß Klein und Große Räthe der Stadt und Republik Bern, entbieten hiermit allen Unsern lieben und getreuen Angehörigen der Stadt und des ganzen Landes Unsern freundlichen Gruß und geneigten Willen, und geben ihnen dabei zu vernehmen:

Als dann bereits seit bald zwei Jahren, durch die Fügung der göttlichen Vorsehung, nach mancherlei Verwirrungen und drückenden auswärtigen Verhältnissen, auch in Unserm Vaterlande die rechtmäßige Landesobrigkeit und deren alte Verfassung im Wesentlichen wiederhergestellt worden, seither dann mancherlei Anstände, Erörterungen und selbst Gefahren, welche die Sicherheit der ganzen Schweiz und Unsers besondern Kantons bedrohten, jede ruhige Berathung über die innern Landes- und Verfassungs-Angelegenheiten erschwert und gehindert haben: so ist endlich durch den gesegneten Ausgang des erneuerten Krieges der hohen verbündeten Mächte gegen den Feind der allgemeinen Ruhe der längst erwünschte Zeitpunkt eingetreten, wo Wir Uns in der Möglichkeit befinden, nicht allein den ordentlichen Geschäftsgang herzustellen, sondern auch die Revision Unserer Fundamental- oder Verfassungsgesetze vorzunehmen, und die ehrwürdigen alten Grundlagen der Republik zu erweitern, zu befestigen und mit den Bedürfnissen der jetzigen Zeit in Übereinstimmung zu bringen.

Indem Wir nun diese wichtige Arbeit beginnen, halten Wir Uns sowohl durch die Natur der Umstände selbst, als durch Unsere gegen alle Stände und Klassen des Volks tragende dankbare Gesinnungen verpflichtet, damit den Anfang zu machen, Unsern lieben und getreuen Angehörigen, die Uns nicht nur in Jahrhunderten des Glücks und des Wohlstandes so viele treue Dienste geleistet, sondern auch in den Tagen der Ungerechtigkeit und allgemeiner Umwälzung die rührendsten Beweise der Anhänglichkeit und Ergebenheit gegeben, in mehrern entscheidenden Zeitpunkten Uns eifrig geholfen und unterstützt, allen auf neue Verwirrung zielenden Umtrieben sich standhaft widersetzt, und noch in den neuesten Zeiten, gleich der hiesigen Burgerschaft, mit rühmlicher Bereitwilligkeit dem Vaterlande große und schwere Opfer gebracht haben, die Grundsätze feierlich zu erklären, nach denen Wir, gleich Unsern Altvordern, wenn auch unter minder günstigen Umständen, die Regierung von Stadt und Land auszuüben gesonnen sind; bei diesem Anlaß, mit einiger Berücksichtigung ganz veränderter Umstände, allen Städten, Landschaften und Gemeinden, theils ihre ehemaligen und wirklich besitzenden Rechte neuerdings anzuerkennen, zu bestätigen und gegen jeden möglichen Zweifel zuzusichern, theils solche mit neuen Gerechtsamen und Freiheiten zu vermehren, die mit Unsern Wünschen, mit den Bedürfnissen der Zeit und mit den billigen Hoffnungen rechtschaffener, durch Einsichten und Kenntnisse an öffentlichen Geschäften theilnehmender Männer übereinstimmend, das Band der Liebe zwischen Stadt und Land auf ewige Zeiten knüpfen, und Unser gemeines Wesen stärken und befestigen können.

Aus diesen Betrachtungen haben Wir nach einer sorgfältigen Berathung, auf den Vortrag Unsers täglichen Raths und sechszehn ihm beigeordneter ausgewählter Standesglieder, als des seit Jahrhunderten zur Vorbereitung aller wichtigern in die Verfassung einschlagenden Gesetze beauftragten Kollegiums von Räthe und Sechszehn, beschlossen, nachfolgende urkundliche Erklärung feierlich auszustellen, und hiermit zu erkennen und zu verordnen, was von einem zum andern folget:

1. Die evangelisch-reformirte Religion ist und bleibt als die herrschende Religion des dermaligen Kantons anerkannt; in denjenigen Theilen der mit Unserm Gebiet zu vereinigenden bischofbaselschen Landschaften aber, deren Einwohner sich zu der römisch-katholischen Religion bekennen, wird die Beibehaltung und freie Ausübung derselben, so wie der Schutz aller dazu gehörigen noch vorhandenen Güter und Erziehungsanstalten zugesichert. Die nähern Bestimmungen hierüber werden in der Vereinigungs-Konvention getroffen werden.

2. Gleichwie es bereits im Jahr 1803 geschehen, werden allen Städten, Landschaften und Gemeinden ihre ehemaligen Rechte, Freiheiten und Gewohnheiten, insofern sie mit den allgemeinen Einrichtungen des Kantons verträglich sind, so wie das Eigenthum und die Verwaltung ihrer besitzenden Güter und Einkünfte, Gebäude und Lokal-Anstalten, bestätigt.

3. Die Uns zuständig gewesenen kleinen Zehnten und andere unentgeldlich aufgehobenen Gefälle und Leistungen sind und bleiben abgeschafft. Auch werden alle beschehenen Loskäufe von Zehnten, Bodenzinsen und Lehenrechten nicht allein unwiderruflich von Uns bestätigt, sondern es soll ihre Loskäuflichkeit auch für die Zukunft, und zwar nach dem durch die Verordnungen vom 25. und 29. Juni und 2. Juli 1803, so wie durch das Dekret vom 18. Mai 1804 bestimmten Preis ferner gestattet sein.

4. Alle von den vorigen Regierungen seit 1798 über obrigkeitliche Güter und Liegenschaften im Kanton Bern geschlossenen Käufe, Verkäufe und andere Verhandlungen werden ebenfalls unwiderruflich bestätigt; auch sollen die Verordnungen, Gesetze und Dekrete der jüngst abgetretenen Kantonsregierung fernerhin fortbestehen, insofern sie noch auf die gegenwärtige Verfassung anwendbar sind, und nicht von Uns auf vorläufige Untersuchung werden abgeschafft oder verändert werden.

5. Die Freiheit des Handels und der Gewerbe wird unter Vorbehalt der für die gemeine Sicherheit, die Aufrechthaltung des Zutrauens und die Emporhebung der Gewerbe selbst zu Polizeigesetze, allen Landesbürgern fernerhin garantirt.

6. Alle in irgend einer Stadt oder Gemeinde des Landes verburgerten Kantonsangehörigen sind ebenfalls, gleich den Burgern der Hauptstadt, zu allen Stellen und Ämtern im Staate wahlfähig, insofern sie die übrigen gesetzlichen Eigenschaften und Bedingungen erfüllen.

7. Die Aufnahme in das regimentsfähige Burgerrecht der Stadt Bern ist und bleibt in Folge des Dekrets vom 24. und 26. März allen in irgend einer Stadt oder Gemeinde des Landes verburgerten Personen unter billigen Bedingungen geöffnet, und Wir erklären, daß es in Unsern Gesinnungen liegt, diese Bedingungen nicht nur nie zu erschweren, sondern eher noch zu erleichtern. Auch behalten wir uns noch ferner vor, besagtes Burgerrecht, selbst ohne Bewerbung, au einheimische oder fremde Personen, die sich um den Stand Bern besonders verdient gemacht haben, zu schenken, oder auch voll übrigen gesetzlichen Bedingungen zu dispensiren.

8. Um endlich in Befolgung und näherer Bestimmung der Dekrete vorn 21. September 1802 und 18. und 20. Jänner 1814 Unsere Regierung mit den rechtschaffensten und einsichtvollsten Männern des ganzen Kantons zu umringen, auch alle Bedürfnisse besser zu kennen und zu befriedigen, wollen Wir überdies noch eine Landesdeputation oder Repräsentation von neunundneunzig Mitgliedern von Städten und Landschaften angeordnet haben, welche vereint mit den Zweihunderten der Stadt Bern die höchste Gewalt ausüben und gleiche Rechte im Regiment genießen sollen.

9. Diese neunundneunzig Mitglieder werden theils von den betreffenden Städten und Amtsbezirken, theils unmittelbar von dem großen Rath selbst, in nachfolgender Zahl frei gewählt:
1. Die größern Städte, Thun, Burgdorf, Pruntrut, Biel, Neuenstadt und Delsperg, wählen aus der Zahl ihrer eigenen oder anderer mit ihrem Zutrauen beehrten Kantonsbürger jede zwei Mitglieder; die übrigen Städte hingegen, als Aarberg, Büren, Erlach, Nidau und Lauffen, jede ein Mitglied, zusammen siebenzehn.
2. Die zweiundzwanzig Amtsbezirke des jetzigen Kantons sollen in Ausdehnung des Dekrets vom 16. Februar 1814, statt fünfunddreißig, zusammen siebenundfünfzig Mitglieder, nach der hiernach bestimmten Form, frei wählen können, als nämlich: die dreizehn größern Amtsbezirke Bern, Seftigen, Nidau, Aarberg, Fraubrunnen, Burgdorf, Wangen, Aarwangen, Trachselwald, Signau, Konolfingen, Thun und Interlaken, jeder drei; die neun kleinern Ämter aber, Laupen, Erlach, Büren, Nieder-Simmenthal, Ober-Simmenthal, Saanen, Frutigen, Oberhasli und Schwarzenburg, jeder zwei Mitglieder; alles in dem Verstand, daß wenn Wir auch in Zukunft gutfinden sollten, die Zahl der Oberämter nach sich erzeigenden Bedürfnissen zu mehren oder zu mindern, dadurch an der Zahl dieser Mitglieder im Ganzen nichts abgeändert werden soll. Die in den bischofbaselschen Landen einzuführenden Amtsbezirke werden nach gleichem Verhältniß zwölf oder dreizehn Mitglieder auf die nämliche Weise zu wählen haben.
    Die Mitglieder von den Amtsbezirken sollen von eigens hierzu einzuführenden Wahlkollegien gewählt werden, und ein zugleich mit dieser Urkunde herauszugebendes Reglement wird die Zu-sammensetzung dieser Wahlkollegien und die Wahlform selbst bestimmen.
    In den Städten geschieht die Wahl von der gesammten Magistratur der betreffenden Stadt, und die Bestimmung der Wahlform ist ihnen selbst überlassen.
    Um sowohl von den Städten als von den Wahlkollegien der Amtsbezirke in den großen Rath gewählt werden zu können, wird erfordert:
        daß der zu Wählende von ehelicher Geburt, ein rechtschaffener, in gutem Ruf stehender, sittlicher Mann sei;
        daß er ferner in irgend einer Stadt oder Gemeinde des Kantons verburgert und eigenen Rechtens sei, das neunundzwanzigste Jahr Alters zurückgelegt habe, und entweder Besitzer eines Grundeigenthums, an dem wenigstens ein Werth von zehntausend Livres bezahlt sein muß, oder Eigenthümer von bedeutenden Manufaktur- oder Handelsanstalten sei, oder seit fünf Jahren in obrigkeitlichen Ämtern oder in Stadt- und Gemeindsverwaltungen seinem Vaterland treu gedient, oder die nämliche Zeit hindurch eine Offiziersstelle in den Auszügen bekleidet habe.
3. Um endlich theils etwa entstehende Mißverhältnisse der Repartition auszugleichen, theils auch solche Personen zu berücksichtigen, die sich in obrigkeitlichen Ämtern, in höhern Militär-Bedienungen, durch Wissenschaft u. s. w. besonders ausgezeichnet und um den Staat verdient gemacht haben. sollen die übrigen zwölf oder dreizehn ohne Unterschied in dein ganzen Kanton, mit Inbegriff der bischofbaselschen Landschaften, auf den Vorschlag Unserer Räthe und Sechszehn von dem großen Rath selbst, jedoch nur aus den Munizipalstädten oder aus den Landgemeinden, gewählt werden.

10. Die wirklich nach Unserm Dekret vom 16. Februar 1814 von Städten und Landschaften vorgeschlagenen und von Uns gewählten Standesglieder sind als Abgeordnete der betreffenden Städte und Landschaften zu betrachten, von denen sie vorgeschlagen worden sind, werden aber gleichwohl das ihnen ertheilte Burgerrecht von Bern behalten, und dasselbe auch für ihre Descendenten genießen; sobald sie die übrigen gesetzlichen Bedingungen erfüllen.

In Zukunft aber sollen sie auf die in dem vorhergehenden Artikel bestimmte Weise ersetzt werden, so daß dermalen nur die zweiundzwanzig den Amtsbezirken des jetzigen Kantons neu beigelegten, die Mitglieder aus den ehemaligen bischofbaselschen Landen und die von dein großen Rathe selbst zu Wählenden, hinzuzufügen sind.

11. Bei Verledigung der Stelle eines Mitglieds von Städten oder Landschaften, durch Tod, Resignation oder andere Gründe, wird sie alsobald auf die oben angezeigte Weise wieder ersetzt, und endlich werden diese Abgeordneten, gleich den übrigen Standesgliedern, alle Jahre der gewöhnlichen Zensur oder Bestätigung, in der durch die zukünftigen Gesetze zu bestimmenden Form, unterworfen sein.

12. Auf diese Grundlagen und vorläufigen Zusicherungen hin werden wir nun unverzüglich die Revision Unserer Fundamentalgesetze vornehmen, und nichts Angelegeneres haben, als die vollständige Einrichtung des Regiments, den ordentlichen Geschäftsgang und alle schützenden Formen, deren Inbegriff die Republik ausmacht, wiederherzustellen.

Und gleichwie Wir durch diese feierliche Urkunde jedermänniglich Unsere Gesinnungen an Tag gelegt, allen Kantonsangehörigen eine ehrenvolle Laufbahn eröffnet, und den Städten und Landschaften Unsers Gebiets einen sehr bedeutenden Antheil an Unserer Regierung eingeräumt haben: so haben Wir zu allen Unsern lieben und getreuen Angehörigen des ganzen Landes hinwieder das Vertrauen, daß sie Uns auch mit ähnlicher Gesinnung entgegenkommen, und nicht nur die äußere Ruhe befestigt, sondern auch ein inneres Band der Liebe, der wechselseitigen Hilfe und des Gemeinsinns geknüpft werde, durch welches unter dem Schutze des Allerhöchsten Unser gemeines Wesen wachsen und blühen möge.

Damit endlich diese Urkunde desto allgemeiner bekannt und besser beobachtet werde, so wollen und verordnen Wir, daß sie nicht allein der erneuerten Sammlung Unserer Fundamentalgesetze einverleibt, sondern auch in deutscher und französischer Sprache durch den Druck bekannt gemacht, und jeder Stadt, Landschaft oder Gemeinde des Kantons ein Exemplar derselben zugestellt werde.

    Gegeben in Unserer großen Rathsversarnmlung den 18., 19., 20. und 21. Herbstmonat, und sowohl von Unserm fürgeliebten Ehrenhaupt, als von Unserm geliebten Staatsschreiber unterzeichnet, in Bern, den 21. Herbstmonat, im Jahr Eintausend achthundert und fünfzehn.

Der Amts-Schultheiß,
R. von Wattenwyl.

Der Staatsschreiber,
Thormann.

Der Kanton Bern hat die Verfassung aus der Zeit vor 1798, die bereits seit der Aufhebung der Mediationsakte von 1803 am 23. Dezember 1813 (Tag des Einzugs der österreichischen Truppen in Bern) wieder in Geltung war, mit der vorstehenden Urkundlichen Erklärung vom 21. September 1815 an das neue Staatsgebiet angepasst; anstelle des Waadt und des Aargau trat das bischöflich baselsche Gebiet, das seit 1793 zu Frankreich gehört hatte.

Der Rat hat im Anhang zu der vorstehenden Urkundlichen Erklärung einen "Auszug aus den, die Verfassung betreffenden, Gesetzen und Decreten des großen Raths der Stadt und Republik Bern" veröffentlicht.

Die Verfassung war also so gestaltet, dass die Stadt Bern faktisch über das Landgebiet des Kantons regierte. Zwar wurde das Untertanenland nicht wieder hergestellt, doch war das Landgebiet faktisch der Stadt und den, diese beherrschenden Patriziern ausgeliefert und unterworfen. Dies führte im Gefolge der Julirevolution 1830 zu Unruhen auch in Bern und es kam zur ersten Verfassung des Kantons am 31. Juli 1831.
 


Quellen: K.H.L. Pölitz, Die europäischen Verfassungen seit dem Jahre 1789, Brockhaus Leipzig 1833
Nabholz/Kläui, Quellenbuch zur Verfassungsgeschichte der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Kantone, Verlag H.R.Sauerländer & Co., Aarau, 1940
© 15. Mai 2005

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