Staatsverfassung des Cantons Appenzell der innern Rhoden

vom 30. Juni 1814

aufgehoben durch
Verfassung vom 30. April 1829

 

Eintheilung des Cantons.

Der Canton Appenzell theilt sich in den Cantonstheil von Innerrhoden und in den Cantonstheil von Ausserrhoden, laut Theilungsvertrag von 1597. Die katholische Religion ist ausschließlich die REligion Innerrhodens; die reformirte Religion die Religion Ausserrhodens.

Politische Eintheilung des Cantons Appenzell der innern Rhoden.

Innerrhoden wird in sieben Rhoden eingetheilt, welche theils aus Bewohnern der Gegenden zusammensetzetzt sind, theils aus verschiedenen Geschlechtern bestehen, als
1) die Schwendiner Rhod;
2) die Rütiner Rhod;
3) die Lehner Rhod;
4) die Schlatter Rhod;
5) die Gonter Rhod;
6) die Rinkenbacer und Stechlenegger Rhod;
7) die Hirschberger und Oberegger Rhod.

Öffentliche Gewalten.

Die erste und souveraine Behörde des Landes ist die Landesgemeinde. Sie besteht aus der Gesammtheit aller Landleute, die die erforderlichen Eigenschaften zur Stimmfähigkeit haben, die achtzehn Jahre und älter sind.

Competenz der Landsgemeinde.

Die Landsgemeinde erwählt zwei Landammänner, einen Landsstatthalter, den Landsseckelmeister, den Landshauptmann, den Landsbauherrn, den Landsfähndrich, den Armen-Leuten-Seckelmeister, den Armen-Leutenpfleger als Gemeindesverwalter, den Landwaibel und Landschreiber für ein Jahr. Jeder im Amte stehende ist wieder wählbar. Doch kann kein Landamman länger als zwei Jahre an der Regierung bleiben. Der stillstehende Landamman ist Pannerherr.

Die Landsgemeinde empfängt, durch Umfrage bei den Hauptleuten und Beamten, den Bericht über die abgelegten Rechnungen der von ihr bestellten Verwaltungsämter. Die Wahlen sowohl als die Beschlüsse der Landsgemeinde geschehen durch offenes Mehr. Die Mehrheit der Stimmen entscheidet.

Die Landsgemeinde ertheilt das Landrecht an Katholische, nachdem die Erlaubniß um Bewerbung desselben vom großen Rathe eingeholt worden. Gesetzesentwürfe, welche der große Rath derselben vorlegt, werden von ihr angenommen oder verworfen, oder zurückgewiesen. Es kann aber kein anderer Gegenstand von der Landsgemeinde in Berathung gezogen werden, als nach dem ein solcher einen Monat vorher dem großen Rathe schriftlich mitgetheilt und desselben Vorbericht eingeholt worden.

Die außerordentlichen Landsgemeinden können nur über diejenigen Gegenstände, weswegen sie zusammenberufen worden, berathschlagen. Die Landsgemeinde bestätigt oder verwirft die ihr vom großen Rathe vorgelegten Bündnisse, Kriegs- und Friedensanträge, womit der Gesandte zur Tagsatzung instruirt wird.

Großer Rath.

Die zweite oberste Landesbehörde ist der große Rath. Er besteht aus den gewählten Landesbeamten, acht kleinen und acht großen Räthen sämmtlicher Rhoden, nebst dem Krichenpfleger  der Pfarr- und Mutterkirche Appenzell, und den zwei Rathsbeamten, Zeugherrn und Reichsvogt, in allem 124. Er entwirft und schlägt der Landsgemeinde Gesetze zur Ratification oder Verwerfung vor. Er bestimmt die Erhebung der Abgaben, und verfügt über das administrative Fach. Er verfügt über die zweckmäßige Benutzung und Anwendung der Gemein- und Armengüter. Er spricht in letzter Instanz über bürgerliche Streitigkeiten, und bei Criminalfällen über Leben und Tod. Er ernennt die Gesandten auf die Tagsatzung, und ertheilt die Instructionen über Gegenstaände, welche nicht der Landesgemeinde vorbehalten sind. Er erwählt den Zeugherrn und Reichsvoigt. Er erwählt aus seiner Mitte einen Voigteirath. Er übt das Collaturrecht aus. Er ertheilt den Titulum mensae an Geistliche. Er ertheilt an Landleute Wirth- und Weinschenksrechte. In seiner Befugniß liegt die Bewilligung oder Nichtbewilligung neu zu erbauender Mühlen, Sägen und öffentlichen Wasserwerke. Er erwählt die Kriegsräthe und die Kastenvögte über die Klöster.. Er vergiebt die Läufer-, Boden und Wagmeisterdienste.

Der große Rath versammelt sich ordentlicher Weise dreimal des Jahrs; im Frühjahr, im Herbst und einen Monat vor der gewöhnlichen Landsgemeinde. Außerordentlich versammelt er sich auf Schluß von Wochenrath und Zuzug. Er entscheidet seine Schlüsse und Rechtssprüche durch offenes Mehr und relative Mehrheit der Stimmen. Bei gleich gefallenen Stimmen entscheidet das Präsidium.

Kleiner Rath, aus sechzehn Räthen bestehend.

Dieser besteht neben den Beamten aus den gewählten kleinen Räthen jeder Rhode; diese werden in drei gleichzählige Gänge oder Rathssectionen abgetheilt. Ein solcher Gang heißt ein Wochenrath. Jeder Gang hält wenigstens vier Sitzungen und Verrichtungen. Ihre Kehrordnung ist umwechselnd. Im ersten Gang hat die erste Stimme der jeweilige Landsstatthalter, im zweiten der jeweilige Landsseckelmeister, im dritten der jeweilige Landeshauptmann. Vom regierenden Landamman und den drei vorbemeldten Beamten wird die Eintheilung der Rathsgänge jährlich gebildet.

Competenz des Wochenraths.

Dieser spricht in bürgerlichen Streitigkeiten und Criminalfällen, welche nicht durch die bestehenden Gesetze dem großen Rathe vorbehalten sind, in erster Instanz ab. In Fällen aber, wo erwiesene Polizei- und andere Vergehungen am Tage liegen, spricht dieser letztinstanzlich ab; in wichtigen Fällen zieht er den Zuzug zu sich.

Schick und Täusche von Liegenscahften, welche zuvor bei der Landescanzlei einprotocollirt seyn müssen, werden demselben in copia vorgelegt. Er entscheidet über Heirathsbewilligungen. Er bietet nach den Gesetzen Ungehorsame vor Gericht. Er erkennt und verordnet Besichtigungen und richterliche Beaugenscheinungen und Sprüche. Über Sprüche von Hauptleuten und Räthen von Oberegg und Hirschberg, wenn selbe von den Parteien weiter gezogen werden, ist er die zweite Instanz. Die Mehrheit der Stimmen entscheidet auch hier, und bei gleichfallenden das Präsidium.

Sprüche auf Beaugenscheinigungen.

Jeder Spruch ist erst-, zweit-, dritt- oder viertinstanzlich. Jeder Hauptmann des Rhodbezirks, wo der Spruch aufgeführt wird, ist Präsident des Spruches. Dazu werden in erster Instanz noch vier kleine Räthe aus der gleichen Rhod, nebst Landschreiber und Landwaibel, zugezogen. Bei der zweiten Instanz werden nebst den vorbemeldten Richtern die noch übrigen kleinen Räthe, auch wenn es nöthig ist, große Räthe zugezogen, bis die Zahl von dreizehn erfüllt ist. In der dritten Instanz werden von der gleichen Rhod nebst den vorigen die überbleibenden Rathsglieder gleicher Rhod zugezogen, dann aber von den Hauptleuten anderer Rhoden, so viel nöthig sind, bis die Zahl von fünf und zwanzig ergänzt ist. In vierter Instanz werden, nebst den vorigen, rhodenweise erst von kleinen, dann von großen Räthen zugezogen, bis die Zahl von neun und vierzig erfüllt ist.

Bei diesen Sprüchen soll Verwandtschaft von Geschwisterkind und näher ausgeschlossen seyn. Bei der vierten Instanz müssen auch beide Landammänner zugezogen werden, wenn anders die Verwandtschaftsgrade mit den Parteien sie nicht davon ausschließen. Jeder Spruch soll nach eingenommenem Augenschein und abgehörten Kundschaften auf dem Span und offenen Felde geschehen. Von der vierten Instanz hat keine Weiterziehung (Appellation) mehr Statt.

Zuzüge.

Diese werden vom Präsidium in den kleinen Rath berufen, und nach folgender Zusammensetzung verstärkt.

Einfacher Zuzug: die sämmtlichen Herren Beamten. Doppelter Zuzug: in wichtigern Fällen, nebst den Vorigen, die regierenden Hauptleute. Verstärkter Zuzug: in noch wichtigern Fällen alle Beamte, regierende und stillstehende Hauptleute. Diese Behörde, vereint mit dem Wochenrath, spricht in Criminalfällen, auch in Civilstreitigkeiten, wenn wegen Wichtigkeit der Sache dieselbe vom Wochenrath dahin gewiesen wird. Sie spricht auch über andere administrative Gegenstände und Landesangelegenheiten, welche nicht gesetzlich dem großen Rathe vorbehalten sind.

Voigteirath.

Dieser wird vom großen Rathe aus seiner Mitte gewählt, und wird bei der Wahl und Zusammensetzung desselben dahin Rücksicht genommen, daß, nebst den acht vordersten Landesbeamten, die übrigen Mitglieder aus kleinen Räthen von den verschiedenen Gegenden gewählt werden, damit jede Gegend bei diesem Voigtei- oder Waisenrath repräsentiert sey.

Competenz des Voigteiraths.

Er nimmt Voigteien ab, bestätigt oder erwählt Vögte. Er spricht über Zahlung von Voigt-Kinderschulden, über Anwendung von Voigteigut zur Nothdurft. Er erkennt und stellt Widerlegbriefe. Er hört das Gesuch der Armen und Bedrängten an, und ertheilt ihnen Unterstützungen und Wochensteuern. Demselben mögen auch Käufe und Täusche zur Ratification vorgelegt werden. Nie aber hat er (der Voigteirath) zwischen Mein und Dein abzusprechen. Er versammelt sich jeden Monat ein Mal.

Commissionen.

Die Criminalcommission, die Marktordnungs- und die Schulcommission bestehen aus jeweiligem Landsstatthalter, Landsseckelmeister und Bauherrn. Zur Schulcommission ist noch beigeordnet jeweiliger Pfarrer und Kirchenpfleger des Hauptortes Appenzell.

Competenz des regierenden Landammans.

Der regierende Landamman präsidirt alle Rathsversammlungen. Er ertheilt das Recht zu Rathsverkündigungen, zu Verhaftungen und Sicherungen auf Personen zu nehmen. Er hat Oberaufsicht über Polizei, er vollzieht Gesetze und macht Verordnungen wirken. Er bewilligt die ihm vom großen Rathe zugestandenen Begüstigungen. Er urtheilt bei geschlossenen Gerichten, und wo es dringender Fall ist, Erlaubnißsprüche abzuhalten. Er entscheidet bei Jahrmärkten über Streitigkeiten des Marktrechtes. Er hat unter sich die Canzlei und Bedienstete. Er unterschreibt und besiegelt alle abgehenden Acten und Briefe, und die innern Actenstücke des Landes werden von ihm visirt. Er fordert auf zur Rechnungsabgabe Klöster- und Pfründenpfleger, milde Stiftungen und Voigteiverwaltungen. Unter seinem Namen werden Räthe, Gerichte, Zuzüge und Voigteiräthe zusammenberufen. - Der Landsstatthalter übernimmt in Abwesenheit oder Krankheit des regierenden Landammans das Präsidiums und die Amtsverrichtungen des regierenden Landammans.

Stimmfähigkeit.

Jeder nicht richterliche entehrte Landmann von achtzehn Jahren bis ins höchste Alter ist stimmfähig bei der Lands- und seiner Rhodgemeinde.

Hirschberg und Oberegg.

Hirschberg und Oberegg werden jeder Theil als eine halbe Rhode geachtet, und gemeinsam als eine Rhode gezählt, und in dem großen Rathe gleichzählig repräsentirt. Jede derselben hat für sich das Recht, in erster Instanz in Civilfällen abzusprechen, und in Polizeivergehungen und Nichtachtung obrigkeitlicher Verordnungen bis auf zehn Thaler in ihren Rhodseckel zu strafen. Im FAll die Zahl der Richter der einem Rhode durch Ausschuluß wegen Verwandtschaftsgraden oder Parteilichkeit zu weit herunter kommt; so werden von der andern Rhode die nöthige Zahl der Richter verlangt. Criminal- und Paternitätsprocesse gehören vor die Tribunalien zu Appenzell. Die zweite richterliche Instanz dieser beiden Rhoden ist der kleine Rath, die dritte der große Rath des Cantons. Beide Rhoden haben ihr eigenes gesondertes Gemeind- und Armengut, und unter Aufsicht des Cantons ihre eigene Voigteiverwaltung.

Ihre besondern Localgesetze werden dem großen Rathe zur Prüfung und Bekräftigung vorgelegt.

    Sollten Landamman und Rath und sämmtliche Landleute an dieser bis anhin ausgeübten, und durch allmählige Berichtigung zu Stande gekommenen Landesverfassung in die Zukunft abzuändern und zu verbessern für nützlich und nothwendig erachten; so behalten sie sich dieses Recht für sich und ihre Nachkommen vor; jedoch erbieten sie sich, eine solche vorzunehmende Abänderung, bevor sie in Ausübung gebracht wird, der hohen eigsgenössischen Tagsatzung zur Einsicht und Prüfung vorzulegen, daß sie niemals etwas enthalten, was mit den allgemeinen Verfügungen der eidsgenössischen Bundesverfassung im Widerspruch stehe.

    Gegenwärtige Verfassungsurkunde des Cantons Appenzell der innern Rhoden ist zu Handen der eidsgenössischen Tagsatzung ausgefertigt und mit den gewohnten Unterschriften und dem großen Siegel unders Cantons verwahrt worden.

    Appenzell, den 30. Brachmonat 1814.

Im Namen des großen Rathes:
Der regierende Landamman,
Brühlmann.

Krüsy,
Landschreiber.

Wie die Urkantone auch, hatte Appenzell eine direktdemokratische Verfassung wie vor 1798.
 


Quellen: K.H.L. Pölitz, Die europäischen Verfassungen seit dem Jahre 1789, Brockhaus Leipzig 1833
© 21. Mai 2005
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